Verena Bentele

Biathlon

  • Name Verena Bentele
  • Sportart Biathlon
  • Geboren am 28. Februar 1982 in Lindau
  • Aufnahme Hall of Fame 2020
  • Rubrik 90er Jahre bis heute

Die blinde Biathlon-Königin

Die blind geborene Skisportlerin Verena Bentele aus Tettnang im Oberschwäbischen ist mit zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics einer der Superstars des paralympischen Sports. Eine Behinderung darf nach ihrer Ansicht "nicht als Krankheit gesehen werden, sondern nur als Einschränkung in manchen Lebensbereichen". Spitzensport betrieb sie, um "zu zeigen, dass wir auch als Behinderte Leistung bringen können, auch als Selbstbestätigung, um es sich selbst zu beweisen" (Stuttgarter Zeitung, 24.12.1997). Ihrem Lebensmotto: "Man muss alles ausprobieren!" verdankt der Deutsche Behindertensport eine seiner größten Erfolgsgeschichten.

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Schon mit 13 Jahren kam sie in das Skilanglauf- und Biathlon-Nationalteam des Deutschen Behindertensportverbandes. Bei der EM 1997 holte sie mit 15 ihren ersten internationalen Titel. Bei den Winter-Paralympics 1998 in Nagano siegte sie überraschend im Biathlon, holte im Langlauf sowohl über 5 km klassisch als auch über 5 km Freistil Silber und mit der 3 x 2,5-km-Staffel der Frauen Bronze, insgesamt also vier Medaillen. Ihren ersten von vier WM-Titeln gewann sie 2000 in Crans Montana/Schweiz auf der damals noch bevorzugten Langlauf-Kurzstrecke (5 km), dazu kam Silber auf der Langstrecke (15 km). Bei den VIII. Winter-Paralympics 2002 nach Salt Lake City holte Verena Bentele, obwohl mit einem Bänderriss im Sprunggelenk belastet, nach dem Auftaktsieg im Biathlon anschließend im Langlauf nicht nur auf der Kurzstrecke Gold, sondern auch auf der Mittel- und Langstrecke. Bei den Spielen 2006 in Turin folgten zwei weitere Gold- und eine Bronzemedaille. Für fünf Goldmedaillen allein bei den Winter-Paralympics 2010 ehrte sie das Internationale Paralympische Komitee bei den Paralympic Sport Awards als „Best Female Athlete“. 

Schon während der sportlichen Karriere war Bentele sozialpolitisch engagiert, z.B. seit 2008 als Botschafterin für die Christoffel-Blindenmission, ist Sportbotschafterin des internationalen paralympischen Komitees IPC und gehört dem Kuratorium der Weissen Liste an. Das SPD-Mitglied nahm 2010, 2012 und 2017 als Delegierte der Bundesversammlung an der Wahl des Bundespräsidenten teil. 2011 schloss sie ihr Studium - Neuere Deutsche Literatur - mit der Note „sehr gut“ ab. Nach ihrer aktiven Karriere gab sie Seminare im Bereich Personaltraining, war von Januar 2014 bis Mai 2018 Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und leitet seit Mai 2018 als Präsidentin den größten Sozialverband VdK. Im Dezember 2021 wurde sie zur DOSB-Vizepräsidentin gewählt.

Verena Bentele

Biathlon

Größte Erfolge

  • 12-fache Paralympicssiegerin (1998, 2002, 2006, 2010)
  • Zweimal Paralympics-Silber (1998)
  • Zweimal Paralympics-Bronze (1998, 2006)
  • 4-malige Weltmeisterin (2000, 2003, 2005)
  • fünf weitere WM-Medaillen 
  • mehrfache Gewinnerin des Biathlon- und Skilanglauf-Gesamtweltcups

Auszeichnungen

  • Jahrhundertsportlerin in der Kategorie „Jetzt erst recht“ des Bayerischen Sportpreises (2018)
  • DJK-Ethik-Preis des Sports (2017)
  • Aufnahme in die „Paralympic Hall of Fame“ (2014)
  • Bayerische Verfassungsmedaille in Silber (2012)
  • Laureus World Sports Award (2011)
  • Silbernes Lorbeerblatt (1998, 2002, 2006 und 2010)
  • Paralympic Sports Award „Best Female Athlete“ (2011)
  • Bambi (2010)
  • Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg (2010)
  • Sportpreis der Bayerischen Staatsregierung (2010)
  • Juniorsportlerin des Jahres in der Kategorie Behindertensport (1997)

 

Biografie

Verena Bentele verliert keine Zeit. Kaum ist der ICE 373 aus Berlin zum Stehen gekommen am Freiburger Hauptbahnhof, steigt sie aus dem Zug. Es ist 18.59 Uhr am Freitag, Rush Hour an Gleis drei. Hunderte laufen umher auf dem Bahnsteig, wuseln herum. Natürlich hat Bentele nicht in dem Abteil Platz genommen, das die Deutsche Bahn für Menschen mit Behinderung vorsieht gleich hinter dem Zugrestaurant. Natürlich hat sie sich die Freiheit genommen, ganz woanders zu sitzen. Sie steigt also auch nicht an der Tür aus, an der sie erwartet wird, sondern an einer viel weiter hinten. Sie klappt ihren Blindenstock auf und marschiert drauflos, als wäre sie die Einzige an Gleis drei. 

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„Verena“, ruft der Reporter, und Bentele antwortet: „Ah, die Stimme kenn‘ ich doch.“ Das letzte Telefonat mit ihr ist Jahre her, aber sie erinnert sich sofort. Sie hakt sich mit dem rechten Arm ein - und weiter geht‘s an Gleis drei, so schnell, dass der Reporter kaum hinterherkommt. „Langsamer“, sagt er: „Da sind lauter Leute vor dir.“ Die 38-Jährige lacht. „Drei Meter noch bis zur Treppe“, sagt er dann und will sie abermals bremsen. Aber sie antwortet nur „Ja, Ja“, läuft weiter, erspürt die Treppe mit ihrem Stock und nimmt die Stufen hinunter zur Unterführung fast genauso schnell wie eine Sehende. Die Zeit drängt, wie eigentlich immer in Benteles Leben. Das Freiburger Rotteck-Gymnasium hat sie eingeladen zu seinem Promi-Talk „Nachgefragt“, ein paar hundert Schülerinnen und Schüler warten schon auf sie. Bentele legt ein Tempo vor wie zu ihren besten Zeiten als Leistungssportlerin auf Schnee. 

Schnee war ihr Element, seit sie laufen kann. Sie wurde wie ihr älterer Bruder Michael blind geboren, kann nur hell und dunkel unterscheiden, aber ihre Eltern dachten gar nicht daran, die beiden Geschwister in Watte zu packen. Sie durften herumrennen auf dem Bio-Hof in einem winzigen Dorf am Bodensee, kletterten auf Dächer, lernten Radfahren - und wenn es mal ein paar blaue Flecken gab, dann gab es sie eben. „Ich habe tolle Eltern, die uns Kindern viel zugetraut haben“, sagt Bentele. Im Winter, wenn das Weiß vom Himmel fiel, war die kleine Verena jedes Mal hin und weg. Im Alter von drei Jahren durfte sie schon mit Alpinskiern die Hänge hinabsausen. „Sie spürt den Schnee, die Sonne, den Wind - sie liebt die Geschwindigkeit“ schrieb der „Münchner Merkur“ über ihre ersten Erfahrungen mit dem Sport des Winters. 

Bentele probierte so ziemlich alles aus, bevor sie zum Team der Nordischen Athleten mit Handicap stieß. „Bei unserer ersten Begegnung war sie 14 Jahre alt“, erinnert sich Jens Zimmermann, der damalige Sprecher der Nordischen Skisportler. „Das war bei der Weltmeisterschaft in Schweden, im Jahr 1996. Schon damals sah man ihr Talent.“ Sie sei sehr aufgeweckt gewesen, die junge Frau, alles andere als schüchtern. „Verena war schnell ein toller Bestandteil der Mannschaft und hat es uns allen leicht gemacht.“  

Rollstuhlfahrer gehörten zum Team, Amputierte, Menschen mit geringer Sehkraft und Blinde. Es war ein verschworener Haufen, legendär für seinen Zusammenhalt und berüchtigt für seine Partys. Bentele war gleich mittendrin statt nur dabei. „Bei unseren Abschlussfesten war sie nie die Erste, die gegangen ist“, berichtet Zimmermann und deutet an, wie diplomatisch das formuliert sei. Schon damals in Schweden sei zu sehen und zu hören und zu spüren gewesen, dass Bentele förmlich sprüht vor Ehrgeiz und Intelligenz - und dass sie keiner Diskussion aus dem Weg geht. „Man merkte sofort“, sagt Zimmermann, „dass sie Talent hat, sich auszudrücken“. Leidenschaftlich hätten die beiden manchmal debattiert, stundenlang. Und wenn Zimmermann am Ende doch die stärkeren Argumente auf seiner Seite hatte, stöhnte sie: „Ach, Jens…“ Zwei Jahre später, da war sie 16, gewann sie ihre erste Goldmedaille bei den Paralympics, den Weltspielen der Menschen mit Behinderung, im japanischen Nagano. Sie strahlte die Menschen an, lachte in die Kameras. Ihre Begeisterung für den Sport und ganz überhaupt für das Leben und für das Glück, es jeden Tag neu genießen zu dürfen, ließ schon damals niemanden kalt. 

Dabei stand sie erst am Anfang ihrer Karriere als Para-Athletin. Elf weitere Goldmedaillen bei Paralympics sollten folgen und vier Siege bei Weltmeisterschaften. Schon früh war Bentele eine Bekanntheit im Sport der Behinderten, eine Erscheinung, fröhlich und frech und blitzgescheit. Aber erst ihre Erfolge im kanadischen Vancouver 2010 machten sie endgültig dem ganzen Land bekannt. Es waren ihre letzten Paralympics, sie boten ihr die ganz große Bühne. Erstmals trugen die Organisatoren fünf Einzel-Wettkämpfe im Biathlon und im Skilanglauf aus. Bentele gewann sie alle. Das Internationale Paralympische Komitee ehrte sie als beste Athletin der Spiele. Der „Spiegel“ krönte sie zur „Schneekönigin“. 

Wie schießt eine Blinde, wie läuft sie auf Schnee? „Für die Fortbewegung auf Skiern hatte ich einen Begleitläufer“, sagt sie. „Er war stets zwei oder drei Meter vor mir, erklärte mir die Strecke und führte mich.“ Geschossen habe sie mit einem Infrarotsystem. „Von der Zielscheibe zum Gewehr wird ein Infrarotsignal gesendet. Ich höre einen Ton im Kopfhörer, und wenn ich das Gewehr bewege, verändert sich die Höhe des Tons.“ Wenn der Ton am höchsten war, wusste sie, dass das Gewehr auf die Mitte der Scheibe zielt. Dann drückte sie ab. „Ich habe sehr früh gelernt, genau hinzuhören, um ans Ziel zu kommen“, sagte sie der Zeitschrift „Für Sie“. „Ich bin quasi Profizuhörerin.“ 

Einmal, im Jahr 2009, hörte sie wieder genau hin, und das hätte sie das Leben kosten können. Ihr Vorausläufer machte einen verhängnisvollen Fehler. Er verwechselte links und rechts, gab das falsche Signal. Die Rechtskurve kam, Bentele steuerte nach links. Sie kam von der Strecke ab, stürzte in ein Flussbett, verletzte sich an den Händen und am Knie, zog sich ein Hämatom an der Leber zu. Eine Niere wurde so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass sie entfernt werden musste. Es war ein schwerer Schlag im Leben einer jungen Frau, die Menschen vertraute und die auf die Hilfe der Sehenden zwingend angewiesen ist. Aber sie fand ihr Selbstvertrauen zurück und damit auch das Vertrauen in ihre Mitmenschen. Sie suchte sich einen neuen Vorausläufer und gewann ein Jahr später fünfmal Gold.  

2011 beendete sie ihre sportliche Karriere, schloss ihr Literatur-Studium in München ab und nutzte ihre Popularität, um Vorträge zu halten und andere Menschen zu coachen in der Frage, wie sie Ziele erreichen können, über alle Widerstände und Handicaps hinweg. Immer beginnt es für Bentele damit, dass man sich selbst und seinem Können vertrauen muss: „Wer nicht daran glaubt, dass er gewinnen kann, hat schon verloren.“ Ihr soziales und politisches Engagement, Bentele gehört seit 2012 der SPD an, führte sie nach Berlin. Die Bundesregierung ernannte sie 2014 zur Behindertenbeauftragten des Landes. Sie war in dieser Funktion die Erste, die selbst ein Handicap hatte. 

Bentele kämpfte für Teilhabe, für ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap. „Jeder Mensch hat Fähigkeiten, die er einbringen kann“, sagte sie damals der „Badischen Zeitung“. Jeder Mensch sei wertvoll, jeder habe Talente. Einen talentfreien Menschen gebe es nicht. Vier Jahre später stieg sie aus der Politik aus und ließ sich zur Präsidentin des Sozialverbands VdK wählen. Sie ist nun auch in dieser Funktion ein Sprachrohr für Menschen, die in der Leistungsgesellschaft schnell an den Rand gedrängt werden. Mehr als zwei Millionen Menschen gehören dem VdK an, er ist der größte Sozialverband in Deutschland. Rentnerinnen und Rentner sind dort Mitglied, Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderung. Bentele kämpft für sie alle. Seit langem fordert sie ein bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland.  
 
Sie ist immer noch fit, neun Jahre nach ihrem Karriereende als Paralympics-Athletin. „Ich mache weiterhin gern Wettkämpfe, die mich fordern und an meine Grenzen bringen“, sagt sie. „Ich gehe oft joggen, morgens vor der Arbeit oder abends.“ Am Wochenende fährt sie im Winter gern Alpinski oder ist wie früher mit einem Vorausläufer auf Langlaufskiern unterwegs, im Sommer zu zweit mit dem Tandem-Bike. Beim Laufen nimmt sie einen Bändel in die Hand, der sie mit ihrem sehenden Begleiter verbindet. Steht gerade niemand zur Verfügung, der mit ihr joggen könnte, geht sie aufs Laufband. „Sport gibt mir Ausdauer“, sagt sie. „Er hilft mir, an Projekten dranzubleiben und mich richtig reinzuhängen.“     

Bentele kann zäh sein. Die Härte und die Ausdauer, die sie sich im Sport erarbeitet hat, helfen ihr dabei. „Wenn ich versuche, die politisch Verantwortlichen zu überzeugen, dann ist das wie ein Wettkampf“, sagt sie. „Wie im Sport muss man sich dann auch mal quälen können.“ Rückschläge seien normal, bei Weltcups wie im wirklichen Leben. „Man muss sie als Chance nutzen, es beim nächsten Mal besser zu machen.“ 

Wenn Martin Haag an Benteles Zeit im Sport zurückdenkt, dann kommt ihm zuerst ihre Zielstrebigkeit in den Sinn. „Verena wusste immer genau, was sie wollte.“ Haag ist selbst körperbehindert, er bestritt früher Wettkämpfe zusammen mit Bentele und fungiert heute als Manager des Nordic Paraski Teams Deutschland. „Ich hatte immer den Eindruck, dass Verena alles aus sich herausholt und bereit ist, alles zu geben“, sagt Haag. Sie brauche andere Menschen nicht zu sehen, um sie vor Augen zu haben. „Sie spürt geradezu, dass du da bist. Sie hat so eine Art siebten Sinn.“ 

Ihr früherer Bundestrainer Peter Zipfel ist bis heute fasziniert von Benteles Ausstrahlung. „Sie hat Charisma“, sagt er. „Wenn sie einen Raum betritt, dann ist sie da. Sie strahlt einfach Präsenz aus.“ Auch in den Zeiten, in denen die Medien sie zum „Superstar des Behindertensports“ stilisierten und eine Heldin aus ihr machten, habe sie nie ihre Bodenhaftung verloren. Vor allem aber, sagen Haag und Zipfel unabhängig voneinander, zeichne Bentele im Sport wie in der Politik und in ihrem gesellschaftlichen Engagement eine Eigenschaft aus, die man überall dort durchaus nicht immer findet: „Verena ist ehrlich.“  

Andreas Strepenick, November 2020 
 

Literatur zu Verena Bentele:

Verena Bentele: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, München 2014.


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