Leichtathletik
Leichtathletik
1938 folgt sein bis dato größter (Einzel-)Erfolg: Harbig gewinnt den EM-Titel in seiner Paradedisziplin - dem 800-Meter-Lauf.
1939 stellt Harbig Weltrekorde über 400 und 800 Meter auf. 1941 bricht er den 1000-Meter-Weltrekord und ist damit der einzige Leichtathlet, der diese drei Rekorde gleichzeitig halten konnte.
Der Blick auf die Stoppuhr: Er ließ den erfahrenen Trainer an seiner Sehkraft zweifeln. Was Woldemar Gerschler da nämlich sah, schien ihm zu fantastisch. „Auf 1:46,6 Minuten war der Zeiger stehen geblieben! Ist eine solche Zeit menschenmöglich?“, fragte er sich am 15. Juli 1939 in der Mailänder Arena Civica, in der das Publikum noch raste. Erst als der Stadionsprecher „Record mondiale“ durchsagte, glaubte der Coach an diese Zeit, die 1,8 Sekunden schneller war als alles, was zuvor über 800 Meter gelaufen worden war. Nach dem Krieg erzählte Gerschler, er habe die Stoppuhr von diesem „sagenhaften Rekord in Mailand“ nie wieder auf Null gestellt, um sie als Dokument der Sportgeschichte aufzubewahren.
Vier Wochen später stellte Harbig mit 46,0 Sekunden auch den Weltrekord auf 400 Meter ein, wieder gegen den Italiener Mario Lanzi, diesmal in Frankfurt. Im Jahr 1941 brach er zudem die Bestzeit über die weniger gelaufenen 1.000 Meter – damit ist Harbig bis heute der einzige Läufer der Geschichte, der gleichzeitig diese drei Rekorde hielt. Aber es war vor allem der spektakuläre 800-Meter-Weltrekord von Mailand, der 16 Jahre Bestand hatte und aus Harbig eine mythische Figur der Leichtathletik machte.
Den Ruhm überlebte der Wunderläufer selbst nur wenige Jahre. Am 5. März 1944 wurde Harbig an der ukrainischen Ostfront bei Kirowograd als vermisst gemeldet. „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben“, formulierte in der Antike der römische Dichter Plautus in Anspielung darauf, dass ein früher Tod den Ruhm noch befeuert. So war es auch im Falle Harbigs. Zunächst jedenfalls.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Mittelstreckler sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR als Vorbild gefeiert. Ludwig Koppenwallner, der später Sportchef der Süddeutschen Zeitung wurde, nannte Harbig das „Idealbild eines wahren Sportsmanns“; selbst ein erfolgreicher Hochspringer, hatte Koppenwallner ihn im Krieg bei Sportfesten kennengelernt. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) schuf 1950 den Rudolf-Harbig-Preis, mit dem seither die Lebensleistung bedeutender Leichtathleten ausgezeichnet wird.
Im Osten modellierte derweil seine Witwe Gerda an einem Bild, das ihren Mann als unpolitischen Sportler zeichnete. „Rudolf Harbig blieb auch in der Uniform ein Mensch. So wie er in all den Jahren zuvor jeden seiner Gegner auf der Aschenbahn geachtet hatte, ganz gleich aus welchem Lande er kam und welcher Hautfarbe er war, so wahrte er auch während der Kriegsjahre die Achtung vor den Menschen anderer Völker“, schrieb sie 1955 in ihrem auflagenstarken Buch „Unvergessener Rudolf Harbig“. Das Dresdner Stadion trug zwischen 1951 und 1971 seinen Namen (und trägt ihn heute wieder). Auch wurden viele Straßen nach Harbig benannt.
In der wahrlich komplizierten Erinnerungsgeschichte des deutschen Sports stellt er damit ein Novum dar: Harbig war der einzige Athlet, der nach 1945 in Ost und West gleichermaßen verehrt wurde. Bläst man aber den mythischen Staub hinweg, der sich nach dem Krieg in einer dicken Schicht über die historische Figur Harbig legte, stellen sich doch viele Fragen zu dieser Heldenverehrung.
Fraglos schrieb Harbig mit seinem steilen Aufstieg ein modernes Märchen. Geboren am 8. November 1913 in Dresden, war der Sohn eines Heizers mit 13 oder 14 Jahren beim TuS Frisch Auf Tauchau mit der Leichtathletik und auch mit dem Feldhandball in Berührung gekommen, er gewann auch einige Rennen. Entdeckt wurde Harbig aber erst im Jahr 1934 beim „Tag des unbekannten Sportmanns“, den der NS-Sport als Talentsichtung für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin initiiert hatte. Seinem Trainer Gerschler war das Naturtalent Harbigs indes schon 1931 beim Handball aufgefallen.
Jedenfalls begann Harbig 1935, also erst im Alter von 22 Jahren, mit systematischem Training und wurde ein Jahr später bereits Deutscher Meister über 800 Meter. Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin gewann er zwar Bronze mit der 4 x 400 Meter-Staffel, schied aber aufgrund seiner schwachen Form – er litt an einem Infekt – in seinen Vorläufen über 400 und 800 Meter jeweils aus. Zwei Jahre später begann seine große Zeit: 1938 siegte er in Paris bei der Europameisterschaft über 800 Meter und mit der 4 x 400 Meter-Staffel. Plötzlich war Harbig, ein gelernter Stellmacher, der vor 1933 unter der Weltwirtschaftskrise gelitten hatte und seit 1936 als Gasmann in seiner Heimatstadt arbeitete, ein Star.
Als Harbig zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurde, instrumentalisierten ihn die NS-Kriegspropaganda und auch sein Trainer als leuchtendes Vorbild eines Soldatensportlers. „‚Welches Ziel ist größer?‘, fragen wir uns. Olympiasieger zu werden? Das harte Leben eines deutschen Sportsmannes weiterzuführen, oder das noch härtere Leben des deutschen Soldaten auf sich nehmen?“, fragte der überzeugte Nationalsozialist Gerschler in dem Buch „Harbigs Aufstieg zum Weltrekord“, das Ende 1939 erschien. „Die Antwort brauchen wir nicht auszusprechen. Sie liegt uns im Blute.“
Dieses Buch stellt das Image Harbigs als unpolitischer Sportler massiv infrage. Gibt es darin doch zahlreiche Passagen, die den Trainer und auch den Athleten als Antisemiten und Rassisten erscheinen lassen. Zum Beispiel schildert Gerschler einen „Zwischenfall in Straßburg“, bei dem sein Schützling und er sich auf dem Weg zur EM 1938 nach Paris gegen Juden hätten zur Wehr setzen müssen. Ein Bild Harbigs, das ihn mit einem US-Sprinter zeigt, wird wie folgt beschrieben: „Lässt Harbig sich nicht ein bisschen zu deutlich anmerken, wie der ‚Schwarze‘ auf ihn wirkt?“
Kaum vorstellbar ist, dass der Leichtathlet diese Passagen vor Erscheinen des Buches nicht kannte. Für einen solch offen formulierten Antisemitismus gebe es für Sportbücher in dieser Zeit kein Beispiel, urteilt der Sporthistoriker Lorenz Peiffer. Überdies sei es „extrem bemerkenswert, dass diese eindeutigen Passagen nach dem Zweiten Weltkrieg vom Mythos des Läufers überdeckt wurden“. Die vielen Autoren, die sich nach 1945 mit der Biografie Harbigs beschäftigten, hatten sie nach dem Krieg in der Tat verschwiegen.
Genauso wenig wurde die zeitliche Kongruenz der spektakulären Leistungssprünge Harbigs mit der Erfindung des Methamphetamins Pervitin thematisiert: Das hochwirksame Aufputschmittel, das sogar in Pralinenform in hohen Dosen käuflich war, wurde am Ende der 1930er Jahre massenhaft konsumiert. Reichsgesundheitsführer Conti stellte das „Speed“ erst 1941 wegen seines hohen Suchtpotenzials unter das Opium-Gesetz.
Es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass auch im Leistungssport mit Pervitin experimentiert wurde: Vor den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles hatten deutsche Sportmediziner schließlich schon Hormongaben im Frauensport getestet. Und bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin sollen viele Athleten ein anderes Amphetaminpräparat (Benzedrin) konsumiert haben.
Hinzu kommt, dass Harbig bereits vor seinem Weltrekord von dem Sportmediziner Herbert Reindell betreut wurde: Jener Reindell, der nach dem Krieg in Freiburg die führende deutsche Sportmedizin aufbaute, ließ 1952 den leistungssteigernden Effekt des Pervitins, das in der Szene als „Prototyp eines Dopingmittels“ galt, wissenschaftlich untersuchen. Auch nach dem Krieg arbeitete Reindell vertrauensvoll mit dem Trainer Gerschler zusammen.
Das seien alles „Erkenntnisse, die den großen Mythos Harbig in Frage stellen“, resümiert der Sporthistoriker Peiffer. Unzweifelhaft stand Harbig konform zum NS-Regime, der Läufer trat auch 1937 in die NSDAP ein (Mitglieds-Nr. 5.878.331, der Aufnahmeantrag datierte vom 1. Dezember 1937). Auch ließ sich Harbig im Reichssportblatt, dem Organ des Reichssportführers, als SA-Sturmmann ablichten.
Jedenfalls illustriert die Figur des Rudolf Harbig, wie verwickelt und verzwickt deutsche Sportgeschichte ist. Mit Heldenverehrung allein kommt man nicht weiter. Es reicht nicht aus, die Figur Harbig auf den ungläubigen Blick Gerschlers auf die Stoppuhr zu reduzieren.
Erik Eggers, Dezember 2024
Quellen und Literatur zu Rudolf Harbig:
Reichssportblatt, Jg. 1939-1942
Erik Eggers: Mythos in Ost und West: Der „Jahrhundertläufer“ Rudolf Harbig, in: Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer (Hrsg.): Sportler im „Jahrhundert der Lager“. Profiteure, Widerständler und Opfer. Göttingen 2012
Erik Eggers: „Harbig, Rudolf“. In: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2024, URL: www.deutsche-biographie.de/123634245.html#dbocontent
Woldemar Gerschler: Harbigs Aufstieg zum Weltrekord. Dresden 1939
Gerda Harbig: Unvergessener Rudolf Harbig. Leipzig 1955
Erhard Huhle/Ludwig Koppenwallner: Laufwunder Rudolf Harbig. Der Weg eines Meisters. Nürnberg 1949
Ulrich Popplow: Rudolf Harbig – vom unbekannten Sportsmann zum Weltrekordläufer. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 2, Heft 3, 1988