Eisschnelllauf
Eisschnelllauf
Nur einen Monat später stellt Keller in Inzell drei Weltrekorde auf: Über 500 Meter, 1000 Meter und den Sprintvierkampf.
Davos im Januar 1972. Strahlende Sonne am stahlblauen Himmel über dem Schweizer Wintersport-Eldorado. Auf dem spiegelnden Eisoval dreht Erhard Keller seine Trainingsrunden. Er ist in den 1560 Meter hoch gelegenen Ort gekommen, um sich den 500-Meter-Weltrekord zurückzuholen, den der Finne Leo Linkovesi wenige Tage zuvor an gleicher Stelle auf 38,0 Sekunden gedrückt hat. Zwei Stunden vor dem Rennen spricht eine vermögende Deutsche den smarten Eisschnellläufer an und lädt ihn für den Abend zu einem Essen ein. Keller sagt zu.
Der Weltrekord-Versuch misslingt (auch die nächsten in Cortina und Madonna di Campiglio). Enttäuscht verlässt Erhard Keller sofort Davos. Selbst die Aussicht auf einen netten Abend mit der schönen Blonden konnte ihn nicht halten. Sie musste alleine essen. Diese Stunden in Davos spiegeln das Leben des Sportlers, des Menschen Erhard Keller. Seine Sucht nach Titeln und Triumphen, nach Anerkennung und Karriere lässt keine Niederlagen zu.
Der Ehrgeiz scheint dem „Christkindl“ (geboren am 24. Dezember 1944) schon in die Wiege gelegt worden zu sein. Mit drei Jahren drehte er seine ersten Runden auf einem gefrorenen Weiher in seiner Heimatstadt Günzburg. Die Schlittschuhe (danach auch Ski und Rennrad) hatte Else Keller mit zehn Stück Butter „bezahlt“. Erhard: „Meine Mutter war Geschäftsführerin der ortsansässigen Molkerei-Zentrale. Da wir damals wenig Geld hatten, hat sie meine Sportgeräte eben gegen Butter getauscht.“
Anfang der 1950er Jahre wurde Vater Rudolf an das Landeskriminalamt in München versetzt. Die Familie zog in ein Haus nach Trudering. Erhard bekam eine Jahreskarte und drehte mit Eishockey-Schlittschuhen nach der Volksschule immer seine Runden im Prinzregenten-Stadion. Der Umzug drei Jahre später in ein Haus in Laim gab der Karriere Kellers den großen Kick. Auf der „Schäferwiese“ im Westen Münchens entstand ein neues Eisoval. „Als ich nach dem Gymnasium vorbeikam und die Läufer bei der Einweihungsfeier sah, sagte ich mir: So schnell wie die bist du auch.“
Mit 20 D-Mark von der Großmutter erstand er gebrauchte, zwei Nummern zu große Schlittschuhe, stopfte sie mit Watte aus und gewann bereits vier Monate später im Januar 1961 sein erstes Rennen über 500 Meter. Nach der Bayerischen Junioren- und der Münchner Meisterschaft wurde Inzells Bürgermeister und Eisschnelllauf-Mäzen Ludwig Schwabl auf das Talent aufmerksam. Im bereits fertig gestellten Klubhaus der noch im Bau befindlichen Kunsteisbahn bekam Keller Kost und Logis für 150 D-Mark im Monat. Ein zusätzliches Taschengeld verdiente er sich auf der Baustelle als Drahtflechter. Inzwischen war er auch mit Zustimmung seines Vaters vom Münchner Max-Planck-Gymnasium ins Karlsgymnasium nach Bad Reichenhall gewechselt. Dort legte er 1964 das Abitur ab.
Nach der Einweihung des 400-Meter-Ovals 1965 in Inzell ließ Erhard Keller die Rekorde geradezu purzeln und holte seine erste Deutsche Meisterschaft über 500 Meter. Die Prämie: freies Wohnen. Dann ging’s rasant bergauf: 1966 Bronze bei der Vierkampf-WM. 1967 unter Trainer Thormod Moum (Norwegen) mit 39,5 Sekunden Einstellung des Weltrekords über 500 Meter. Den verbesserte er am 28. Januar 1968 in Inzell auf 39,2. Wenige Tage später bei Olympia in Grenoble zeigte Keller seine ganze Cleverness. Während die Konkurrenz die dritte Startgruppe wählte (das war damals noch möglich), startete er in der ersten. Er blieb zwar 1,1 Sekunden über seinem Weltrekord, da das Eis aber immer schlechter wurde, reichte die Zeit für Gold. Geld gab’s für Amateure nicht, aber ein Zwei-Zimmer-Appartement für die nächsten vier Jahre in Inzell.
Die Freude war nur kurz. Beim Skifahren in St. Moritz brach sich Erhard Keller das Bein. Sechs Monate dauerte es bis die Knochen endlich zusammengewachsen waren. Aber leider war der Fuß danach krumm. Doch da machte sich zum ersten Mal das Medizin-Studium, das Keller 1964 in München begonnen hatte, bezahlt. „Ich habe den Fuß geröntgt und den Schlittschuh so gebaut, dass er die Fehlstellung ausglich“, erzählte Keller. Zwei Jahre folgten mit mehr oder weniger Erfolg. Bis im vorolympischen Winter der neue Bundestrainer Herbert Höfl die Technik umstellte und sich die Siege wieder einstellten: Weltmeister im Eissprint.
Mit dem neuen Weltrekord von 38,3 Sekunden startete Keller am 2. Januar ins Olympiajahr. „Ich hole in Sapporo Gold“, versprach er Trainer Höfl – und hielt Wort. Mit drei Weltrekorden (500 Meter, 1000 Meter, Sprintvierkampf) beendete der Doppel-Olympiasieger Anfang März seine Amateurlaufbahn.
Dem Eis blieb er treu. Keller stieg in die Profi-Liga ein, gewann alle zehn Rennen über 500 Meter und kassierte jeweils 25.000 D-Mark. Dann musste der Zirkus schließen. Keller: „Die Internationale Eislauf-Föderation hatte entschieden, dass alle Stadien nicht mehr an Profis vermietet werden durften.“ Auch mit dem Antrag auf Reamateurisierung hatte Keller kein Glück. „Schade“, sagt er heute. „Ich hätte auch 1976 in Innsbruck gewonnen, denn bei den Tests vorher in Inzell war ich als Vorläufer immer schneller als alle Olympiastarter.“
Der Sport stand da aber schon lange nicht mehr im Mittelpunkt. Neben der Eröffnung seiner Zahnarzt-Praxis 1975 in Grünwald hatte Keller beim Fernsehen Fuß gefasst. Ab 1974 moderierte er für die ARD 114 Mal die Samstagabend-Show „Spiel ohne Grenzen“ und kommentierte als Experte bei den Winterspielen 1992 und 1994. Harry Valérien holte ihn als Gastmoderator ins Aktuelle Sportstudio des ZDF.
Die Erfolge von früher würden ihm heute Millionen bringen. Aber Keller jammert nicht. „Wir sind auch damals nicht leer ausgegangen“, sagt er und grinst. „Im holländischen Heerenveen zum Beispiel gab es für einen Sieg zehn Tonnen Tulpenzwiebel. Vor der Heimfahrt stand dann plötzlich ein Blumenhändler da und bot zwischen 15.000 und 20.000 Mark in bar. In Norwegen hatte der Königliche Verband immer ein Kuvert im Hotelzimmer hinterlegt.“ Dr. Keller möchte mit den heutigen Profis gar nicht tauschen: „Ich war mit 40 Jahren angesehener Zahnarzt in Grünwald und musste nicht bei Sponsoren Klinken putzen.“
Den Weltrekord, dem er in Davos nachjagte, hat er übrigens eingestellt – am 4. März 1972 in Inzell.
Herbert Jung, Mai 2011
Literatur zu Dr. Erhard Keller:
Erhard Keller: 74 Schritte zum Ziel –Inzell gab mir die Chance. München, 1968