Leichtathletik
Leichtathletik
Es war damals ein fremdes Pathos, mit dem man seine Helden feierte – es waren die ersten Tage des alten Jahrhunderts. Es war damals möglich, dass ein Läufer elf Rekorde hielt – über 100, 200, 400, 800, 1000 und 1500 Meter. Die Rede ist von Hanns Braun, der zwischen 1907 und 1912 der sicherlich beste und vor allem vielseitigste Läufer der Welt war.
Er war der Erste, den man mit diesem damals üblichen Pathos feierte. Ein Mann namens Paul Laven, der als Radioreporter erstmals den Sport in dem neuen Medium erwähnte, begeisterte sich. Seine Worte: „Er trägt den deutschen Adler im dunklen Brustband auf dem Trikot. Es ist Hanns Braun, der erste internationale Kämpfer unter den deutschen Athleten vor dem ersten Krieg. Das war damals, als der Sport begann, eine weltumspannende Macht zu werden.“
Hanns Braun wuchs in München auf, wo Vater Louis als Bildhauer und Schlachtenmaler wirkte und ein seltsames Faible für den Sport besaß. Das war in jener Zeit sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Er steckte den Jungen in den Münchner Sport-Club (MSC), wo man neben mehreren Sportarten auch schon eine Hockey-Mannschaft hatte, aber es dauerte nicht lange, bis sich das Talent des Jungen als Läufer bemerkbar machte. Er war 22 Jahre alt, als er bei den Olympischen Spielen 1908 in London Zweiter mit der Staffel und Dritter über 800 Meter wurde. Vier Jahre später in Stockholm galt er als der hohe Favorit über die 800 Meter – er wurde Sechster. Der damals dreißigjährige Sportfunktionär Carl Diem schrieb in einem schmalen Bändchen: „Hanns Braun verdient hier eine Sonderbesprechung. Unser Münchner Sportsmann galt vor Stockholm auch in weiten amerikanischen Sportkreisen als unbesieglich. Die Geschichte der letzten Wochen hat diese Meinung korrigiert. Es mag dahingestellt bleiben, ob mit Recht oder nicht. Jedenfalls sind die Niederlagen Brauns ein typischer Beleg für die Kraft des sportlichen Prinzips der Auslese, die immer nur dann ihre Blüten treibt, wenn die breite Unterschicht des guten Durchschnitts und der guten Klasse darüber vorhanden ist.“
Eine gewisse Fassungslosigkeit spricht aus Diems Bericht über den 800 Meter-Lauf: „Die Aufregung vor diesem Kampf war beispiellos. Braun, der alle unsere Hoffnungen trug und den Kampf gegen sechs Amerikaner und einen Kanadier zu bestehen hatte, war blass aber wohl disponiert. Beim Startschuss sicherte sich Sheppard an der Innenkante im 200 m-Tempo die Spitze. Meredith lag hinter ihm; Braun lief etwas nach außen gelegen auf dem dritten Platz. Nach 300 Metern stoppte Sheppard ein klein wenig und gab dadurch den anderen Amerikanern die Möglichkeit zu ihm aufzuschließen, und so lag Braun vollständig eingefangen zwischen sechs Amerikanern und dem einen Kanadier. Das Tempo wurde sofort wieder äußerst scharf, so dass kaum eine Zeit blieb zu spurten. Als Braun mit ungefähr zwei Metern Verlust gegen die drei neben ihm an der Spitze liegenden Amerikaner in die Zielseite einbog, blieb sein gefürchteter Spurt aus. Er vermochte nicht heranzukommen und gab das Rennen in den letzten Metern verloren. Man sollte nicht in Pharisäerklagen ausbrechen und das Zusammenarbeiten der Amerikaner beschimpfen, jede andere Nation hätte in der gleichen Weise gehandelt.“
Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Lauf aus jener Zeit, der mit solcher Sorgfalt aufgezeichnet wurde. Aber der Ruhm des Hanns Braun gründete sich ja keineswegs nur auf diese bittere Niederlage. In den folgenden Monaten und Jahren schlug er alle jene, die ihn in Stockholm besiegten. Braun hatte in Stockholm ein paar Tage zuvor die olympische Silbermedaille im 400-Meter-Lauf errungen. Über diese Strecke wurde er auch dreimal deutscher Meister. Dreimal wurde er auch englischer Meister über 880 Yards gegen die besten Briten – eine Leistung, die meistens nicht hoch genug eingeschätzt wird, da derartige Wettkämpfe im Ausland damals ja einen hohen Zeitaufwand in Anspruch nahmen und selten waren. Noch ein wichtiges Detail: Die Reisen waren teuer und die Athleten unterlagen einem strengen Amateurstatus.
Hanns Braun erbte vom Vater das Talent für die Malerei und die Bildhauerei und ergriff den gleichen Beruf. Er hatte auch hier Erfolg. Braun erreichte hohes Ansehen in der Münchner Gesellschaft und vor allem jenen Kreisen, die sich mit der wachsenden Popularität der verschiedenen Sportarten befassten. Hanns Braun war sicherlich das, was man hundert Jahre später als Star bezeichnete – nicht im Sinne egoistischer Geltungssucht, sondern mit Respekt und Achtung gegenüber seinen Sportkameraden. Er war ein so genanntes „auswärtiges Mitglied“ beim Berliner Sport-Club (BSC) – eine besondere Ehre, die man sich zu verdienen hatte und die Verbindung zur alten Reichshauptstadt darstellte. Er begann ein Kunst-Studium in München und studierte auch Architektur in Berlin, wo man noch heute eine Straße und einen Platz nach ihm benennt. In München gab es jahrzehntelang ein großes internationales Sportfest unter seinem Namen – das Fest starb, als die Sportler Startgelder verlangten, die die Veranstalter nicht aufzubringen vermochten.
Der süddeutsche Leichtathletik-Verband stiftete 1921 einen Hanns-Braun-Gedächtnis-Preis, der bis 1935 verliehen wurde. Von 1935 bis zum Beginn des Krieges 1939 wurde der Preis durch das „Reichsfachamt Leichtathletik“ auf Reichsebene verliehen. Die Statue ging in den Kriegswirren verloren und wurde 1951 neu gestiftet. Es ist heute ein jährlicher Wanderpreis für besondere Leistungen und außerordentliche Verdienste. Es ist wohl fraglich, ob Hanns Braun mit der Verwendung seines Namens immer sehr glücklich gewesen wäre.
Hanns Braun zog 1914 wie viele junge Männer als Freiwilliger in einen Krieg, der ihnen zunächst wie ein großes Abenteuer vorkam. Er rückte mit dem Infanterie-Leibregiment München ein und konnte dabei eine Ausbildung als Flugzeug-Pilot machen. 1916 kam er zur Fliegertruppe. Als Hanns Braun an diesem Oktobertag seinen Doppeldecker bestieg, hatte er den Auftrag, den Rückzug der deutschen Front zu decken. Der Einsatz führte ihn und zwei andere Maschinen an die belgische Grenze – dort wo der Eisenbahnknotenpunkt Cambrai liegt, direkt an der Schelde. Es soll ein leicht diesiger, aber schöner Herbsttag gewesen sein – der Maler und Bildhauer Hanns Braun hat bei dem Flug vielleicht einen Moment lang seinen Befehl vergessen und sich an den Farben des Herbstes erfreut. Zu einer Zeit, in der die Flugmaschinen aus Sperrholz und Leinwand bestanden, gab es vielleicht noch die Möglichkeit zu solchen Gedankengängen – Braun war fasziniert vom Fliegen.
Es gab eine ganze Reihe von Erklärungen über das, was an diesem 9. Oktober 1918 geschah. Wahrscheinlich gab es eine kleine Unvorsichtigkeit, die dazu führte, dass zwei der eng nebeneinander fliegenden Maschinen sich mit den Tragflächen berührten und abstürzten. Hanns Braun starb 17 Tage vor seinem 33. Geburtstag. Drei Wochen später wurde am 11. November 1918 der Waffenstillstand von Compiégne unterzeichnet.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Johannes Braun:
Karl Adolf Scherer: 100 Jahre Olympische Spiele. Dortmund 1995
Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik Teil 1. Athen 1896 – Berlin 1936. Berlin 1997