Handball
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Besondere Biografie
Joachim Deckarm wurde stellvertretend für den Bereich „Biografie als besonderer Kämpfer“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
Mit dem VfL Gummersbach gewinnt Deckarm drei Deutsche Meisterschaften - Mit der Nationalmannschaft wird er 1976 Olympia-Vierter.
1978 führt Deckarm - hier mit seinem Freund und Mannschaftskameraden Heiner Brand - die deutsche Nationalmannschaft zum WM-Titel.
Nach seinem fatalen Sportunfall kämpft sich Deckarm Stück für Stück ins Leben zurück - stets unterstützt durch alte Weggefährten wie z.B. Heiner Brand.
Brand war es auch, der 2011 als erster mit dem Joachim-Deckarm-Preis ausgezeichnet wurde. Hier erhält Franz Beckenbauer die Auszeichnung.
Von Tag zu Tag werden es weniger, die noch daran glauben können, dass der Handballspieler Joachim Deckarm nach seinem tragischen Unfall am 30. März 1979 bei einem Europapokalspiel des VfL Gummersbach in Ungarn ins Leben zurückkehren wird. Seit Monaten liegt der 25 Jahre alte Nationalspieler im Koma – zunächst zwei Wochen in der Universitätsklinik Budapest, dann drei Monate in der Universitätsklinik Köln und schließlich in der Klinik von Homburg/Saar. Seine Eltern möchten ihn näher bei sich haben. Aber Hoffnung kann kein Arzt mit auf den Weg in die saarländische Heimat des wohl besten Handballspielers der Welt geben.
Die sportlichen Hoffnungen, die sich mit jedem Talent verbinden, hat Joachim Deckarm zu dieser Zeit schon voll erfüllt: Deutscher Meister, Europapokalsieger, Weltmeister, mehr als hundert Länderspiele, rund viertausend Tore für den VfL Gummersbach und das deutsche Nationalteam. Aber er scheint noch lange nicht am Ende seiner sportlichen Entwicklung. Was Franz Beckenbauer in jener Zeit für den deutschen Fußball wird, das könnte Joachim Deckarm mit seiner ähnlich eleganten und intelligenten Spielweise für den deutschen Handball werden: eine Lichtgestalt seines Sports.
Doch dann wird es im Bruchteil einer Sekunde dunkel um Joachim Deckarm. Nach einem unglücklichen Zusammenprall mit einem Gegenspieler verliert er an jenem 30. März 1979 in der Sporthalle von Tatabánya sofort das Bewusstsein und fällt mit dem Kopf auf den nur mit einer Kunststoffschicht überzogenen Betonboden. Ärzte aus dem Krankenhaus der ungarischen Kleinstadt westlich von Budapest, die den Vorfall bei der Direktübertragung am Fernsehschirm gesehen haben, fahren sofort an den Unglücksort, nehmen einen Luftröhrenschnitt vor und veranlassen den Transport mit einem Krankenwagen in die Universitätsklinik der gut fünfzig Kilometer entfernten Hauptstadt. Das Bemühen der Gummersbacher um einen Transport mit Hubschrauber scheitert an den Militärbehörden des Ostblockstaats.
Niemand vor Ort will an diesem dramatischen Abend daran glauben, dass in der 23. Minute des Europapokalspiels zwischen Tatabánya und Gummersbach eine überragende sportliche Karriere unwiderruflich zu Ende ist. Alle berechtigten Hoffnungen auf weitere große sportliche Erfolge, die sich mit Joachim Deckarm verbinden, sind auf dem harten Boden der ungarischen Sporthalle zerschellt. Sein erstes Leben ist zu Ende.
Mit seinem schweren Schädelhirntrauma ist er in dieses fürchterliche Niemandsland des Lebens geraten. „Wir waren in Budapest, Köln und Homburg immer wieder an seinem Bett“, erzählt seine Mutter Ruth. Zusammen mit ihrem gesundheitlich angeschlagenen Mann Rudolf hat sie drei weitere Söhne, die ebenfalls Handball spielen. Auch wenn es von Monat zu Monat schwerer wird, bewahren sich die Deckarm-Familie und die engsten Deckarm-Freunde die Hoffnung, dass es noch ein zweites Leben für Joachim geben könnte, auch wenn ringsherum immer weniger Menschen daran glauben mögen. Sie habe einfach gespürt, erzählt die nun 88 Jahre alte Mutter, dass der reglos daliegende Jo sie gehört habe. Und deshalb habe sie die Hoffnung nie aufgegeben. Am 8. August 1979 wacht Joachim Deckarm nach 131 Tagen im Koma in der Homburger Klinik auf. Die Hoffnung hat nicht getrogen.
Aber der Start ins zweite Leben des einstigen Sportidols ist alles andere als ein leichtes Spiel. Joachim Deckarm kann sich kaum bewegen, kann nicht sprechen, ist völlig kraft- und hilflos. Es braucht nun erneut sehr viel Hoffnung, dass wirklich wieder Leben von dem so schwer geschädigten Hirn in den Körper strömen kann. Die Familie allein – der Vater hat inzwischen einen Herzinfarkt erlitten – kann die notwendige ständige Hilfe für den schwerst behinderten Sohn gar nicht leisten.
Teamgeist ist nun gefragt – wie immer in diesem Mannschaftssport, in dem man besonders eng zusammenhalten muss. Und dieses Team bildet sich in Saarbrücken, wo Joachim Deckarm am 19. Januar 1954 geboren wurde und wo sechs Jahre später beim TV Malstatt seine vielseitige sportliche Ausbildung mit Turnen, Leichtathletik und Handball begann. Es bildet sich auch in Gummersbach, wo der Abiturient und spätere Mathematik- und Sportstudent seit 1973 für die beste deutsche Klubmannschaft spielte. Es bildet sich in den Rehakliniken von Bonn-Bad Godesberg, Langensteinbach, Gailingen, Elzach, Freiburg, Gallspach/Oberösterreich, Mettlach, Herzogenaurach, Weiskirchen. Und es bildet sich unter dem Dach der Stiftung Deutsche Sporthilfe, wo bald nach dem Beginn der umfangreichen Rehabilitation der Joachim-Deckarm-Fonds gegründet wird, in den Spenden und die Erlöse aus zahlreichen Benefizaktionen für die aufwändigen Behandlungen, Medikationen, Therapien, Rehamaßnahmen und Kuren fließen.
Handballspieler überall in Deutschland spielen für Joachim Deckarm. Nicht zuletzt sind es seine Mannschaftskameraden aus dem WM-Team von 1978, die sich permanent für ihn einsetzen, ihn fordern und fördern und damit auch die großartige ehrenamtliche Arbeit ehemaliger Handballspieler und -trainer in Saarbrücken – allen voran Werner Hürter und Reinhard Peters – bei der direkten, ständigen Betreuung mit ebenso individuell konzipierten wie komplexen Aufbauprogrammen unterstützen. Für das zweite Leben von Joachim Deckarm muss alles auf die ganz speziellen Bedürfnisse eines schwer Gehirnverletzten ausgerichtet werden, auf ein „Kleinkind von 1,94 Meter Größe, angeschwollen auf mehr als einhundert Kilogramm Gewicht“, wie es Werner Hürter zu Beginn seines unermüdlichen Einsatzes für „einen neuen Menschen“ formuliert. Joachim Deckarm muss praktisch wieder wie ein Hochleistungssportler trainieren, muss zahlreiche und umfangreiche Medikationen über sich ergehen lassen, hat einen genau festgelegten und penibel eingehaltenen Wochenplan für unterschiedlichste Untersuchungen, Behandlungen, Therapiesitzungen, Trainingsstunden.
Das Motto, das Werner Hürter an die Wand geschrieben hat „Ich will, ich kann, ich muss“ befolgt er mit all der Zielstrebigkeit, Hingabe, Ausdauer und Geduld, die erfolgreichen Leistungssportlern eigen ist. Mit seinem stets freundlichen und bescheidenen Auftreten hat Joachim Deckarm bereits als Weltstar des Handballs alle in seinem Umfeld, aber auch Millionen Fans für sich einnehmen können. An seinem Wesen hat der tiefe Einschnitt in sein Leben nichts geändert. „Obwohl er nahezu alles neu erlernen musste und auch das Sprechen nur mühsam ging, steckte er sein Umfeld oft an mit seinen Witzen, mit seiner Lebenslust“, betont sein langjähriger Mannschaftskamerad Heiner Brand. „Zu meiner Herzensangelegenheit zähle ich es, ihm stets ein Freund und für ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten da zu sein, wenn er mich braucht. Er wäre, nein, er ist es umgekehrt auch.“ Stets für Joachim Deckarm da ist vor allem auch Klaus Zöll, einst Bundesligatrainer und Präsidiumsmitglied im Deutschen Handballbund, der sich die Betreuung – wie der inzwischen verstorbene Werner Hürter – zu einer Lebensaufgabe gemacht hat.
Teamgeist ist das Bindeglied zwischen den beiden Leben des Joachim Deckarm. Und Teamgeist ist auch der Titel seiner Biografie, die 2009, dreißig Jahre nach seinem Unfall, auf Initiative von Klaus Zöll von der Stiftung Deutsche Sporthilfe, vom Deutschen Handballbund und der Handball-Bundesliga herausgegeben wurde und inzwischen in dritter, stets aktualisierter Auflage vorliegt.
„Der Titel des Buchs hätte nicht besser gewählt werden können“, schreibt Heiner Brand in seinem Vorwort zur Deckarm-Biografie. „Joachim Deckarm war ein Musterbeispiel für die Haltung, alle individuellen Fähigkeiten wie selbstverständlich in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Auch dies hat ihn bekannt und zu Recht so beliebt gemacht. Teamgeist war es dann auch, der sein Leben nach dem Unfall prägte. Um den vorbildlichen Mannschaftsspieler hat sich in drei Jahrzehnten ein Team gebildet, das ein Beispiel für Zusammenhalt im Sport wie in der Gesellschaft gibt.“
In seiner sportlichen Karriere – auch schon mit sechzehn Jahren als deutscher Mannschaftsmeister im leichtathletischen Fünfkampf der Jugend – war Joachim Deckarm stets ein Vorbild für das, was man „Teamplayer“ nennt. Er hätte vermutlich auch als Hochspringer (Bestleistung Anfang der Siebzigerjahre: 2,04 Meter) oder Speerwerfer (über 70 Meter) weitere Erfolge erzielen können, doch ein Mannschaftsspiel wie Handball, wo wirklich alle eng zusammenstehen müssen, hat ihn – seinem Wesen entsprechend – mehr gereizt. Teamgeist hat er wie kein Zweiter gelebt, und Teamgeist ist es, was ihm nun tagtäglich auch im Haus der Parität in Saarbrücken von seinen Betreuern widerfährt. Motto: „Man hilft einem Freund.“
Ein Vorbild ist Joachim Deckarm auch in seinem zweiten Leben geblieben. Wer ihn persönlich erlebt, kann sich seiner ergreifenden Ausstrahlung nicht entziehen. „Ein Lächeln von ihm bringt mich zum Strahlen“, sagt Handball-Nationalspielerin Laura Steinbach, Tochter von Prof. Dr. Klaus Steinbach. Der frühere und letzte deutsche NOK-Präsident, als Klinikchef im Saarland wie als Mitglied des Joachim-Deckarm-Ausschusses ebenfalls enger Wegbegleiter seines Patienten und Schützlings, bringt es auf eine ganz einfache Formel: „Man muss ihn einfach mögen.“
Joachim Deckarms Charme, sein Humor, sein aufrichtiges Interesse für alle und alles um ihn herum, seine große Freude an vielen kleinen Dingen des Lebens machen es tatsächlich fast unmöglich, sich nicht in das große Team der Bewunderer einzureihen. Er versteht es, auch ohne große Worte, anderen Menschen Mut zu machen, Schicksalsschläge zu überwinden. Und kaum einer, der sich nicht mit großer Demut an eine Begegnung mit Joachim Deckarm erinnert.
Rolf Heggen, Mai 2013
Literatur zu Joachim Deckarm:
Rolf Heggen: TEAMGEIST - Die zwei Leben des Joachim Deckarm. 3. Aufl. 2011