Ski Alpin
Ski Alpin
Nachdem Martin Braxenthaler bereits bei seinen ersten Paralympics in Nagano eine Bronzemedaille gewann, folgt 2002 in Salt Lake City der große Durchbruch.
Dort gewinnt Braxenthaler vier Mal Gold in den Disziplinen Slalom, Riesenslalom, Abfahrt und Super G.
2007 erhält er als erster Deutscher den "Laureus-World-Sports-Award" und ist seitdem ehrenamtlicher Förderer der Laureus Sport for Good Foundation.
Diese sollten die letzten in seiner beeindruckenden Karriere sein, die er nach den Spielen von Vancouver beendet.
Ein Jahr nach der letzten Goldfahrt war Martin Braxenthaler wieder da. Auf der Piste am Eibsee bei Garmisch-Partenkirchen, bei einem Termin mit Zuschauern, Medien und Sponsorenfähnchen im Schnee. Er trug einen Helm, Skibrille, die ganze Montur, die er für seinen Sport braucht. Er saß im Karbonpanzer eines Monoskis, mit dem er gewohnt sicher den Hang hinunterkurvte. Es schien keine Zeit vergangen zu sein seit den Paralympics von Vancouver 2010, bei denen er sich mit drei Gold-Medaillen und einem Silberrang vom Leistungssport verabschiedet hatte. Er wirkte agil und fit, es war, als würde er gleich zum nächsten Rennen aufbrechen wollen, weil er doch nicht so leicht loslassen konnte von seiner erfüllten Vergangenheit als Skirennfahrer.
Aber Martin Braxenthaler war nicht gekommen, weil er wieder jemandem etwas beweisen wollte oder weil der den Applaus der Bewunderer vermisste. Der Termin war ein Monoski-Projekttag für nichtbehinderte Jugendliche von den Garmisch-Partenkirchener St.-Irmengard-Schulen. Es ging nicht um neue Titelehren oder wertvollen Siegerschmuck. Es ging darum, das Bewusstsein junger Menschen für die Reize der Inklusion zu gewinnen. „Ihnen wird vermittelt, wie es sich anfühlt, wenn man in einer schwierigen Situation durch Einsatz und Engagement zum Erfolg kommt“, sagte Martin Braxenthaler im Ton ehrlicher Begeisterung. „Die nehmen was mit nach Hause.“ Und als ihn jemand fragte, ob ihm die Welt des Leistungssports fehle, überlegte er keine Sekunde. „Gar nicht“, antwortete er, „für mich ist das schon weit weg. Ich bin ein glücklicher Mensch, der sich in seiner Entscheidung bestätigt fühlt.“
Einen großen Sportler erkennt man nicht nur an seinen Siegen. Ihn zeichnet ein tieferes Verständnis für die Kräfte des Lebens aus und eine Freude an der Bewegung, die über die Sehnsucht nach Anerkennung und Glanz hinausgeht. Ein wirklich großer Sportler bewegt sich, weil er die Bewegung liebt, nicht nur, weil er etwas dabei gewinnen möchte. Einen wirklich großen Sportler erkennt man folglich auch daran, dass er weiß, wann es genug ist mit dem atemlosen Tanz um Titel und Triumphe. Und Martin Braxenthaler hat das gewusst. Wenn man ihn richtig versteht, waren die vielen Medaillen, die er im Laufe seiner Karriere gewonnen hat, für ihn immer nur Teil einer viel größeren Geschichte, und deshalb fiel es ihm nicht schwer, dem Wettkampfbetrieb nach seinen letzten Erfolgen Adieu zu sagen.
2010 hatte er genug davon, ein Leistungsträger der paralympischen Skinationalmannschaft zu sein, obwohl er mit seinen 38 Jahren und seinem dominanten Fahrstil sicher noch eine Paralympiade hätte dranhängen können. Braxenthaler wollte weiter. Neue Grenzen suchen bei Extremtouren mit dem Handbike und mit seinen Sponsoren aus der Orthopädietechnik- und Automobil-Branche die Entwicklung behindertengerechter Fortbewegungsmittel vorantreiben. Es war, als sei für ihn beim Skifahren alles gesagt. Er wollte das nächste Kapitel aufschlagen, und auch heute, mit bald zehn Jahren Abstand zum Rücktritt, kann er sagen, dass seine Entscheidung richtig war. „Alles im Leben hat seine Zeit, eine der Grundlage für ein glückliches und zufriedenes Leben ist, bewusst Abschied nehmen zu können“, sagt er, „es gibt so viele tolle und spannende Sachen im Leben, da ist Leistungssport nicht alles.“
Martin Braxenthaler, geboren am 11. März des deutschen Olympiajahres 1972 in Traunstein, ist ein Experte für die Werte des Sports. Er selbst hat sie unmittelbarer erlebt als viele andere, und natürlich hat das mit seiner Geschichte zu tun, die mit einer Tragödie begann. Als sie sich ereignete, war Martin Braxenthaler ein zufriedener Automechaniker, für den Sport ein wichtiges Hobby war. Er fuhr Mountainbike und Ski, er spielte Fußball. Vielleicht war er auch deshalb so gerne Hobbysportler, weil er auf keine der drei Sportarten hätte verzichten wollen, um in einer davon richtig gut zu werden. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass er eines Tages ein berühmter Athlet werden würde, als ein Unfall seine bisherigen Lebensentwürfe jäh über den Haufen warf. Es war 1994. Er half auf dem Hof seiner Eltern beim Umbau. Eine Ladung Ziegelsteine fiel ihm in den Rücken, die Wirbelsäule brach, und bald war klar, dass Martin Braxenthaler querschnittsgelähmt bleiben würde. Nie mehr Fußball. Nie mehr Mountainbiken. Nie mehr Skifahren. Oder?
Im Rückblick erzählen sich solche Geschichten von erfolgreichen Paralympioniken immer so, als wäre nach dem Einschnitt alles mit großer Selbstverständlichkeit weitergegangen. Martin Braxenthaler selbst hat es nie darauf angelegt, sein Martyrium nach dem Unglück ausführlich zu beschreiben. Diese erste Zeit mit der kaputten Wirbelsäule muss schwerer gewesen sein, als Außenstehende das beschreiben können oder jemals nachempfinden können. Wie lange dauert das, bis ein junger, lebenslustiger Mann einsieht, dass die Selbstverständlichkeit, sich auf den eigenen beiden Beinen zu bewegen, zu einem unmöglichen Anspruch geworden ist? Martin Braxenthaler musste erst einmal in seinen neuen körperlichen Zustand hineinwachsen und viele Tätigkeiten ganz neu lernen. In einem Interview hat er mal gesagt, es sei sein größter Erfolg, dass er gelernt habe, „die Behinderung zu akzeptieren".
Er vergisst nicht, was der Sport damals für ihn getan hat. „Über den Rehasport bin ich nach dem Unfall erst wieder fit für das alltägliche Leben geworden.“ Und außerdem fit für den Aufbruch in eine für ihn bis dahin unbekannte Dimension des Bewegens. Denn als der Frust verwunden war, lag da bald eine ganz neue Möglichkeit vor ihm. Er wollte wieder mit seinen Freunden auf die Piste, Lähmung hin oder her, und deshalb belegte er ein Jahr nach dem Unfall einen Kurs im Monoskifahren. Er trat dem ESV Traunstein bei und erarbeitete sich bald eine ganz neue Perspektive. Es folgte die Entdeckung des Leistungssports. 1996 stand er im bayerischen Landeskader, bald darauf in der Nationalmannschaft. Seine ersten Paralympischen Spiele waren die in Nagano, Japan, 1998. Er gewann Bronze im Super-G. Martin Braxenthaler hatte sich auf den Weg gemacht, ein Idol für Menschen mit Behinderung zu werden. Der Sport schien wie ein Sog auf Braxenthaler gewirkt zu haben, der ihn aus der Niedergeschlagenheit in eine neue, herrliche Welt hineinzog.
Bald war Martin Braxenthaler ein Garant deutscher paralympischer Wertarbeit. Er überließ nichts dem Zufall. Mensch und Material bilden beim paralympischen Sport eine besondere Einheit. Das Sportgerät ersetzt ja sozusagen einen Teil des Körpers. Und Martin Braxenthaler war ein Meister darin, seine Fitness, seinen Fahrstil und seinen gefederten Monoski aufeinander abzustimmen. Er tüftelte und schraubte an seinem Rennskistuhl herum, bis er sich mit High-Tech-Dämpfung und Ultraleichtelementen bestmöglich für seine Fahrten eignete. "Vollzeit-Amateur" hat er sich selbst einmal genannt, seine kleine Rente, Verbandszuschüsse und Sponsorengelder finanzierten seinen Anspruch, in seinem Bereich der Beste der Welt zu sein und damit Zeichen zu setzen. Weltcupsiege und WM-Titel errang er, räumte bei den Paralympics in Salt Lake City 2002 vier Goldmedaillen ab und bei denen in Turin 2006 drei, ehe er zum Karriere-Showdown in Vancouver seine Paralympicssiege Nummer acht, neun und zehn sammelte. Die Regeln des Sports änderten sich, die Wettkampfklassen wurden größer, der Konkurrenzkampf wurde härter und die Erwartungen stiegen. Die paralympische Welt erfasste ein neues Tempo. Braxenthaler gewann trotzdem.
Aber Martin Braxenthaler war eben nicht nur ein Gewinner. Er war auch eine Stimme und ein Motor seines Sports. Es reichte ihm nicht, sich vom Unfallopfer zum Hochleistungssportler emporgearbeitet zu haben, er wollte einen Beitrag leisten zur Fortentwicklung des paralympischen Gewerbes. „Es muss alles professioneller werden“, sagte er 2008 streng und sprach damit im Grunde für alle Leistungssportler im Deutschen Behindertensportverband (DBS). Die Paralympics entwickelten sich allmählich vom niedlichen Nachspiel der Olympischen Spiele zu einer Leistungsshow mit eigenem Charakter. Wer mithalten wollte, brauchte mehr als den Enthusiasmus des hingebungsvollen Amateursportlers, und tatsächlich stellte sich der DBS neu auf. Martin Braxenthaler trug dazu bei mit seiner Autorität als bayrischer Gewinnertyp, aber auch mit seiner klaren, sachlichen Art, Missstände anzusprechen.
Und jetzt? Die Erben des Martin Braxenthaler kurven von Erfolg zu Erfolg. Vor allem Anna Schaffelhuber, mittlerweile selbst achtmalige Paralympicssiegerin mit dem Monoski, die im Schatten Braxenthalers ihre ersten internationalen Wettkampfschwünge machen konnte. Braxenthaler ist immer noch irgendwie dabei. Leute wie Anna Schaffelhuber, die sich von ihm haben inspirieren lassen, tragen seine Begeisterung für den Sport weiter. Außerdem hilft er als Assistenztrainer im Paralympics-Skiteam sowie in der Nachwuchsarbeit. Und er werkelt mit seinen Sponsoren, immer noch lauter Firmen aus Fahrzeug- oder Orthopädietechnik-Industrie, an den Fortbewegungsmitteln die Zukunft für Menschen mit Behinderung, entwickelt Produkte mit und hilft beim Marketing zum Thema "Mobilität für Menschen mit Behinderung". Und wenn man ihn zum paralympischen Sport von heute befragt, bekommt man Antworten, aus denen man schließen kann, dass er es sich nicht zu leicht machen will mit der Freude an der wachsenden Professionalität im sogenannten Behindertensport. „Ob jede Veränderung dann auch so positiv ist - das ist auch eine Frage“, sagt Martin Braxenthaler, „jede gesunde und nachhaltige Entwicklung braucht seine Zeit und muss in allen Bereichen reifen. Hier sehe ich die große Herausforderung.“
Die Zukunft hat Braxenthaler schon immer interessiert. Was man dafür tun muss, was sie erfordert, wie man sie gestalten kann. „Die Anerkennung für die Leistung von Sportlern mit Behinderung ist sicher sehr gewachsen“, sagt er, „aber wir brauchen auch in Zukunft Typen und Typinnen die fair und sauber auftreten und eine Werbung für den paralympischen Sport sind.“
Martin Braxenthaler, ein Mann mit Haltung und Mut, führt weiter ein bewegtes Leben. Er ist ein Aktivposten im Kampf für eine inklusive Gesellschaft und ein Vorbild, an dem sich junge Menschen aufrichten können. Seine Zeit als Medaillensammler mag er 2010 beendet haben. Aber ein Sportler ist er geblieben, also einer, der die Kultur der Bewegung so sehr liebt, dass er sie nicht mehr rauslässt aus seiner Seele. „Ich treibe gerne Sport, er macht mich fit für den Alltag“, sagt er. Und er will etwas dafür tun, damit diese Kultur über die nächsten Generationen erhalten bleibt. Er fühlt sich sogar verpflichtet dazu, was wohl auch mit seinen Medaillen zu tun hat. Manche sehen ihn als Idol wegen seiner Erfolge und sprechen darüber. Martin Braxenthaler nimmt es zur Kenntnis und denkt sich seinen Teil dazu. „Da erkennt man“, sagt er, „welche Verantwortung man gegenüber der Gesellschaft hat.“
Thomas Hahn, September 2019