Ringen
Ringen
Es hieß, Schifferstadt sei lediglich durch die Taten eines einzigen Mannes auf die Landkarte gerutscht. Schifferstadt liegt in Rheinland-Pfalz unweit von Ludwigshafen, um die zwanzigtausend Einwohner, eine Wohnstadt für jene, die in der Nähe arbeiten. In Schifferstadt wachsen angeblich die besten Rettiche der Pfalz. Es gibt hier einen berühmten Sportverein, den Verein für Kraftsport (VfK 07), eine bekannte Adresse für den Ringkampf. Der Mann, der dieses Schifferstadt zumindest für einige Jahre berühmt machte, hieß Wilfried Dietrich – ein Ringer.
Er wurde hier geboren. Sie nannten ihn den „Kran von Schifferstadt“, und das war eine gar nicht so schlechte Bezeichnung für den Athleten Dietrich, der in seiner langen Laufbahn jeden seiner Gegner aushob und somit hilflos machte. Die Sache mit dem Kran hatte auch eine weit profanere Bedeutung: Er hatte tatsächlich einmal eine Weile mit einem Kran gearbeitet.
Ringen hat in Deutschland eine sehr lange Tradition. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass der Ringkampf im Grunde ein einfaches Kräftemessen ist, bei dem die Fairness als Selbstverständlichkeit gilt. Das hat sicherlich einen simplen Grund: Wer sich nicht an die Regeln zu halten mag, kann wegbleiben. Die Deutschen waren die ersten großen Amateure in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts – sie waren von Anfang an dabei, als der französische Baron Coubertin der Welt die Olympischen Spiele bescherte. Es waren meistens die kleineren Städte, in denen sich die Vereine für das Ringen ansiedelten und bei passenden Gelegenheiten erstaunliche Zuschauerzahlen anlockten. Die schillernde Welt der Athleten hat schon immer das Volk angezogen – das gilt ganz besonders für die archaischen Kämpfe Mann gegen Mann, bei dem sich auf den Tribünen am Mattenrand gewisse Urtriebe bemerkbar machen, die nichts mit dem eigentlichen Sport zu tun hatten.
Es war allerdings für die Zuschauer gar nicht so einfach, weil es lange Jahrzehnte keine gemeinsamen Regeln gab. Das führte dazu, dass man bereits Europa- und Weltmeisterschaften veranstaltete, die den Charakter von Freundschaftskämpfen besaßen. Es gab nämlich noch keinen Verband. Erst als 1921 bei einem Treffen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Lausanne ein gewisser Druck ausgeübt wurde, entschloss man sich, dieser Formalität nachzukommen. Es ist zweifelhaft, ob Wilfried Dietrich in Schifferstadt derartige Dinge besonders interessierten.
Wilfried Dietrich hat in seinem Leben alle Erfolge und Triumphe erlebt, die ein Sportler erleben kann – er hat abseits von der Ringermatte aber auch ein seltsam unruhiges Leben geführt – einer, der misstrauisch blieb und zauderte – eine Eigenschaft, an die er im Kampf nie dachte. Es kann sein, dass die Schwäche des starken Mannes ihre Gründe auch in Enttäuschungen erhielt. Er hat kaum einmal darüber geredet. Niemand redet gern über seine Schwächen.
Olympiasieger, Weltmeister, Europameister, dreißig deutsche Meisterschaften: Nicht nur in Schifferstadt sprach man vom stärksten Mann der Welt, der von 1956 bis 1972 an fünf Olympischen Spielen teilnahm und dabei fünf Medaillen gewann. Dietrich kam aus einem eher bescheidenen Elternhaus. Mit dem Ringkampf kam er nur zufällig zusammen – es war wohl jemand beim VfK 07 aufgefallen, als der bärenstarke Junge beim Herumrangeln mit Altersgenossen seine Freunde gleich reihenweise auf den Boden legte. Da war er bereits achtzehn Jahre alt. Fünf Jahre später wurde er zum ersten Mal deutscher Meister. Er war zu jener Zeit sicherlich noch nicht der alles überragende Ringer. In der Pfalz hatte es schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg starke Männer gegeben, die internationalen Ruf besaßen – Leute wie Wissmann, Kolb, Neser, Schäfer, später Ferber. Wilfried Dietrich begann seine Laufbahn in der zweiten Riege des VfK Schifferstadt, aber er hatte nicht nur das Talent zum Ringkampf, sondern auch das Talent zum Fleiß. Als in Karlsruhe 1955 die Weltmeisterschaften ausgetragen wurden, setzte man den jungen Mann ein, der – 1,84 Meter groß bei 115 Kilo – den sechsten Platz belegte. Das war der Beginn einer großen Laufbahn.
Als ihm die Gemeinde Schifferstadt den Ehrenbürgerbrief verleiht, fühlt er sich unzufrieden, weil die Ehrung erst erfolgt, als er neben den deutschen Meistertiteln bereits Olympiasieger, Weltmeister und Europameister ist. Es gibt Freunde, die sich enttäuscht von ihm abwenden. Sie sind der Ansicht, dass Dietrich sich undankbar verhält. Es ist sicherlich kein gutes Klima, und das wird auch nicht besser, als Dietrich seinen Heimatverein verlässt, um für die Konkurrenz, Mainz 88, zu kämpfen. Er verlegt sogar seinen Wohnsitz nach Speyer; die Ehe mit Frau Gerda geht in die Brüche, zwei Töchter bleiben zurück. Er heiratet wieder und zieht mit Gattin Helga nach Durbanville, einem Vorort von Kapstadt in Südafrika. Nun sind wirklich alle Brücken abgebrochen. Nach Schifferstadt kehrt er nie zurück.
Er verdient ein wenig Geld bei den Catchern, aber der Zirkus ist wohl nicht seine Welt. Es gibt einen Kampf mit dem niederländischen Judoka Anton Geesink, der 1964 bei den Olympischen Spielen in Tokio die japanische Nation in Trauer versetzte. Er schultert den eineinhalb Köpfe größeren Geesink in wenigen Minuten. Es ist eine Nachricht für einen Tag, sonst nichts.
Es muss zumindest noch eine Szene nachgeholt werden, die den großen Ringkämpfer Wilfried Dietrich betrifft. Die Szene spielt 1972, als die Olympischen Spiele in München ausgetragen wurden. Der fast vierzigjährige Dietrich hat sich noch einmal der Fron des Trainings unterzogen, um bei Olympia im eigenen Land dabei zu sein. Eine Chance auf die Medaillen verflüchtigte sich bald, aber dann geschah es, dass Wilfried Dietrich bei diesem Turnier auf einen Amerikaner namens Chris Taylor traf. Dieser Taylor wog knapp zweihundert Kilo – niemand vermochte zu sagen, wie schwer er wirklich war, denn in der Gewichtsklasse der Superschwergewichtler war die Angabe des Körpergewichts überflüssig. Dietrich wog einen knappen Zentner weniger als sein Gegner.
Dieser Chris Taylor hatte vorher seine Gegner eher erdrückt als durch eine besondere Technik besiegt. Dietrich brachte es fertig, hinter dem breiten Rücken und dem gewaltigen Bauch des Amerikaners zwei Finger miteinander zu verhaken – er fasste einen Untergriff und warf Taylor mit einem Überstürzer auf die Schultern. Es gibt heute sicherlich kein Lehrbuch des Ringens auf der Welt, welches das Bild dieser Szene nicht zeigt. Alle Freunde dieses viele tausend Jahre alten Sports sprechen von einer Sternstunde – so wie man eine besondere Szene des Fußballspiels, jenen berühmten Weitsprungweltrekord oder das dramatische Tennisfinale nie vergisst. Wilfried Dietrich hat unzählige Kämpfe bestritten und gewonnen, aber dieser eine war es, der ihn – so sagen die Enthusiasten – unsterblich machte. Freunde, die ihn in Südafrika besuchten, erzählten, dass der Pfälzer Wilfried Dietrich dort nicht glücklich gewesen sei. Es war wohl auch das Heimweh, das Fehlen der vertrauten Umgebung, Einsamkeit. Er hatte Jahrzehnte die große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit genossen und nicht nur zu meiden versucht – jetzt war es wohl so, dass er es vermisste.
Er starb 1992 im Alter von nur 58 Jahren in Durbanville bei Kapstadt. Es war das Herz. Er kehrte nun doch wieder heim nach Schifferstadt, wo auf dem Waldfriedhof sein Grab liegt.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Wilfried Dietrich:
Karl Adolf Scherer: 100 Jahre Olympische Spiele. Dortmund 1995