Foto: picture alliance
Radsport
Radsport
Zweimalige Olympiasiegerin (2012 im Teamsprint, 2016 im Sprint)
Olympia-Bronze 2016 im Teamsprint
Elfmalige Weltmeisterin (zwischen 2014 und 2018)
Fünfmalige Europameisterin
Sechsmalige Junioren-Weltmeisterin
28 Weltcupsiege
Silbernes Lorbeerblatt 2012, 2016
Sonderpreis „Vorbild des Sports“ bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 2018
Auszeichnung als „Die Beste“ 2018 durch die Sporthilfe-geförderten Athlet:innen
Aufnahme in die Hall of Fame des europäischen Radsportverbands
Bei den Olympischen Spielen in London 2012 gewinnt Kristina Vogel zusammen mit Miriam Welte im Team-Sprint ihre erste olympische Medaille. 2016 folgen Gold und Bronze in Rio. Neben den drei olympischen Medaillen sicherte sie sich in ihrer sportlichen Karriere insgesamt fünf Europameister- und 17 Weltmeistertitel sowie 28 Weltcup-Siege. (Foto: picture alliance)
2018 beendet ein Unfall die sportliche Karriere der Olympiasiegerin: Beim Training kollidiert sie mit einem anderen Fahrer und erleidet eine Querschnittlähmung. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. (Foto: picture alliance)
Durch ihren unbändigen Willen und ihre positive Einstellung kämpft sich Kristina Vogel nach dem Unfall zurück ins Leben. Ihr Freund Michael Seidenbecher steht ihr in dieser schweren Zeit zur Seite. (Foto: picture alliance)
2018 erhält sie den Sonderpreis „Vorbild des Sports“ bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres. (Foto: picture alliance)
Trotz des plötzlichen Endes ihrer Karriere im Bahnrad bleibt sie dem Sport verbunden und ist bei Wettkämpfen als TV-Kommentatorin und Expertin dabei, wie zum Beispiel auch bei der Bahnrad-WM 2019. (Foto: picture alliance)
Dass Kristina Vogel Radsportlerin werden würde, entschied sich an einem Nachmittag im Kinderzimmer. Die damals Elfjährige warf eine Münze, um sich für ein Hobby zu entscheiden: Zahl stand fürs Tanzen, Kopf fürs Radfahren. Die Münze fiel – Kopf. Statt mit den Schulfreundinnen im Tanzverein Choreografien einzustudieren, hieß es fortan: Vollgasfahren beim SV Sömmerda in Thüringen. Und trotzdem war es mehr als Zufall, dass Kristina Vogel zur besten Bahnradsportlerin weltweit wurde. Wer 17 Weltmeistertitel und zweimal Olympiagold holt, bei dem muss vieles zusammenpassen: Talent, ein Quäntchen Glück – und vor allem ein unbändiger Wille, die Dinge zum Positiven zu wenden, selbst unter widrigsten Umständen.
„Wie gut ich war, ist mir eigentlich erst nach meinem Unfall klar geworden“, sagt Kristina Vogel heute. Bis ein Radunfall 2018 ihr Leben auf den Kopf stellte, verlief ihre Karriere wie im Bilderbuch: Als 14-Jährige überzeugt sie den Bundestrainer bei einem Sichtungsrennen auf der Radbahn in Stuttgart, dabei war sie zuvor nur Straßenrennen gefahren – einer guten Portion „Glück und Intuition“ schrieb sie diesen Erfolg später zu.
Mit der Trainingsunterstützung im Nationalkader verzeichnet Vogel eine wahre Trainingsexplosion, holt einen Sieg nach dem anderen bei Juniorinnenrennen, zunächst innerhalb Deutschlands, bald schon auf internationaler Bühne. Sie wechselt aufs Sportinternat, das Leben unter gleichgesinnten Jugendlichen entfacht ihren Ehrgeiz zusätzlich. Die Freundinnen müssen beim Abendessen schon mal auf Kristina warten, weil diese kein Ende beim Training findet.
Dass sie in einer eigenen Liga unterwegs ist, zeigt sich spätestens bei den Junioren-WMs 2007 und 2008, als sie jeweils drei Titel im 500-Meter-Zeitfahren, im Sprint und im Keirin-Wettbewerb erlangt. Ein Unfall im Jahr 2009, bei dem ihr Gesicht schwere Schnittverletzungen erlitt, kann Vogel nicht lange stoppen: Schon im darauffolgenden Jahr gewinnt sie ihren ersten Weltcup. 2012 erfolgt der Vorstoß in die Top-Elite des Radsports: Kristina Vogel holt gemeinsam mit Miriam Welte den Titel im Teamsprint bei der WM in Melbourne, Australien – und wenige Monate später Olympiagold in London.
Von der irrsinnigen Freude darüber schreibt Kristina Vogel in ihren Memoiren „Immer noch ich. Nur anders.“ Von der 21-Jährigen fiel in diesem Moment viel Druck ab: Gleich bei den ersten Olympischen Spielen mit der Favoritenrolle fertig zu werden, das war hart. Auch, am Tag nach dem Sieg direkt im nächsten Rennen antreten zu müssen, war viel für die junge Sportlerin – sie wurde Sechste im Keirin, Vierte im Sprint. Eine Enttäuschung für die ehrgeizige Kristina, aber: „Vor allem war da die Riesenerleichterung, alles unbeschadet überstanden zu haben.“
So unvergesslich sich die Tage im Londoner Olympiadorf und das Glück über die Goldmedaille auch ins Gedächtnis von Kristina Vogel eingebrannt haben, sind sie doch auch eine Erinnerung daran, dass Sportlerleben eben nicht nur aus der Auflistung von Erfolgen bestehen, sondern von unzähligen kleinen und großen Rückschlägen. Und vor allem: Aus unspektakulären, aber umso härteren Trainingstagen, aus einer ewigen Schleife des Wegsteckenkönnens und Weitermachens. „Ich konnte Schmerzen immer gut aushalten“, schreibt Vogel in ihrem Buch. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich beim Training nicht gern herumheulte. Es tat weh, und ich wollte trotzdem schnell fahren.“
Ihr Durchhaltevermögen schreibt sie heute ihrem unprätentiösen Aufwachsen zu: Mit sechs Monaten kommt sie als Spätaussiedlerkind aus Kirgistan nach Deutschland. Die Familie muss sich eine Existenz aufbauen, die Verhältnisse sind nicht üppig, mit ihren zwei Schwestern teilt sich Kristina ein Kinderzimmer mit Stockbett. Als Älteste muss Kristina Verantwortung übernehmen, im Haushalt helfen, putzen, auch mal kochen. Sie ist nicht unglücklich als Kind, aber ist froh, als sie den Sport für sich entdeckt – und damit ein neues Freiheitsgefühl: „Beim Sport hatte ich endlich mal etwas nur für mich. Ich musste mal nicht teilen“, erzählt sie heute. „Das Schlimmste war für mich, wenn meine Eltern mir das Training strichen, weil ich irgendeinen Blödsinn angestellt hatte – das war furchtbar!“
Allzu viele Trainingseinheiten müssen zum Glück nicht ausfallen. Dass Kristina Talent für den Radsport hat, ist nicht zu übersehen. Ans Gewinnen gewöhnt sie sich schnell: „Es ging um das Lebensgefühl, das mit dem Siegen zusammenhing“, sagt sie später. Davon wollte sie mehr, von diesem Gefühl, dass sich die Mühen auszahlen, dass der Schmerz, über den sie hinausgeht beim Training, gut für etwas ist. „Ich habe von klein auf vorgelebt bekommen, dass man etwas tun muss für das, was man erreichen will“, sagt Kristina Vogel. „Ich wusste immer, dass es im Leben keinen Fahrstuhl gibt, der einen schneller als vorgesehen ein paar Stufen höher bringt.“
Kristina Vogel sucht nicht nach Abkürzungen, sondern nach Wegen. Egal, wie lang und steinig sie sein mögen. Als sie 2006 zum ersten Mal deutsche Meisterin wird, zum ersten Mal die Nationalhymne gespielt wird, als sie nach einem Bahnradrennen ganz oben auf dem Treppchen steht, steht für sie ein für alle Mal fest: Sie will Profi werden, ihre Leidenschaft zum Beruf machen. Nach der Realschule geht sie zur Bundespolizei, auch, weil ihr Freund Michael ihr dazu rät. Er ist ein paar Jahre älter, selbst Radsportler, ist den gleichen beruflichen Weg gegangen und versteht, was Kristina umtreibt. Es sind nicht die üblichen Probleme einer 16-Jährigen, sondern größere Fragen: Reicht das, was ich kann, für ganz oben?
Es reicht. Kristina Vogel wird in ihrer Karriere insgesamt fünfmal Europameisterin, 17-mal Weltmeisterin, holt 28 Weltcup-Siege und gewinnt drei olympische Medaillen – einmal Bronze, zweimal Gold. Mit dieser Bilanz ist sie bis dato die erfolgreichste Bahnrad-Sprinterin weltweit – eine Tatsache, über die sie heute mit großem Stolz spricht. Das war nicht immer so: „Natürlich ist es ein geiles Gefühl, eine Goldmedaille in den Händen zu halten“, sagt Kristina Vogel. „Aber als Sportlerin hat man immer schon das nächste Ziel im Blick, man hält nicht oft inne und freut sich einfach über das, was man geschafft hat. So verrückt es klingt: Erst der Unfall hat mir gezeigt, dass ich stolz und selbstbewusst über das sprechen darf, was ich in meiner Karriere geschafft habe.“
Der Unfall. Der große Riss in Kristina Vogels Leben. 2018 kollidiert sie beim Training im Cottbuser Radstadion mit einem anderen Fahrer. An den Unfall selbst kann sich Kristina Vogel nicht mehr erinnern. Nur an das Gefühl, im Krankenhaus aufzuwachen und sofort zu wissen: „Das war’s, ich werde nicht mehr laufen können.“ Ihr Rückenmark ist ab dem siebten Brustwirbel unterbrochen, Ärzte machen keine Hoffnungen darauf, dass Kristina jemals wieder wird laufen können. Aber darauf, trotz der Behinderung ein selbständiges Leben führen zu können – ein Gedanke, an den sich die damals 28-Jährige klammert. „Wer sitzen kann, kann auch leben“, schreibt sie in ihrem Buch über die Erleichterung, die sie empfindet, als sie im Krankenhaus das erste Mal in den Liegestuhl gehoben wird und nach ein paar Tagen darin selbständig ihre Mahlzeiten einnehmen kann.
Kristina Vogel kämpft sich ins Leben zurück. Langsam, mühsam, schmerzhaft, aber immer mit der Zuversicht, die sie sich in vielen Jahren Leistungssport antrainiert hat: „Ich finde mich mit den Gegebenheiten ab und konzentriere mich auf den Moment, in dem es weitergeht“, schreibt sie über die Fähigkeit, nicht zu hadern, sondern nach vorne zu gucken – egal, wie ungewiss die Zukunft gerade scheinen mag. Statt auf dem Rad trainiert sie nun das Leben im Rollstuhl. Allein klarzukommen, so gut es eben möglich ist im Alltag, das war ihr Ziel. Nach nur sechs Monaten im Krankenhaus kehrte sie nach Hause zurück, zu Michael.
Aber was nun? Der Übergang vom Profisport ins „normale“ Leben ist für die meisten Athleten nicht leicht. Doch wie sollte der „Plan B“ nach der aktiven Karriere für Kristina Vogel aussehen, jetzt, wo einfach alles anders ist? Die vielen Fragezeichen in ihrem Leben quälen Kristina. Aber nicht lange, wie es ihre unvergleichliche Art ist: Sie packt die Themen lieber direkt an, als zu lange herumzusitzen und abzuwarten.
Als sie Anfang 2019 wieder mit Bewegung und Training anfangen kann, kehrt die Energie in Kristina zurück. Sie macht Pläne für die Zukunft, fängt an, in den sozialen Medien über ihre Behinderung zu sprechen, thematisiert das Leben als Rollstuhlfahrerin in einem oft nicht barrierefreien Alltag. Sie sucht den Kontakt nach draußen, geht in Talkshows, berichtet von ihrem Lebensmut, wird schließlich von einer Speaker-Agentur entdeckt. Jemand wie Kristina, findet man dort, jemand mit so einem unerschütterlichen Optimismus und Lebenswillen, muss seine Geschichte erzählen.
Heute ist Kristina Vogel eine vielbeschäftigte Frau, arbeitet als TV-Expertin, als Trainerin und Motivationsrednerin. Der Bahnradsport ist ihr immer noch wichtig. Zudem engagiert sie sich ehrenamtlich, hielt zeitweise über 30 Ehrenämter, unter anderem im Stadtrat ihrer Heimatstadt Erfurt. „Ich muss nichts mehr, ich kann und darf nur noch“, sagt sie über ihren Antrieb, sich für die Themen, die ihr wichtig sind, kämpfen zu wollen: Inklusion, Diversität und Chancengleichheit. Im Sport, aber auch gesamtgesellschaftlich. Ob sie noch Ziele hat? „Man kann sich Ziele setzen, aber im Leben kommt immer alles anders“, antwortet sie. Das habe sie sehr hart erfahren müssen. Sich nicht unterkriegen zu lassen, das sei es, worauf es letztlich ankomme: „Ich habe gelernt, auch die kleinen Momente im Leben zu feiern. Man muss sich das Glück jeden Tag neu erkämpfen. Und das kann manchmal anspruchsvoller sein, als nur die eigenen Pokale im Schrank zu bewundern."
Julia Hackober, November 2023
Literatur zu Kristina Vogel:
Kristina Vogel, Matthias Teiting: Immer noch ich. Nur anders. Mein Leben für den Radsport. Malik 2021