Anja Fichtel

Fechten

  • Name Anja Fichtel
  • Sportart Fechten
  • Geboren am 17. August 1968 in Tauberbischofsheim
  • Aufnahme Hall of Fame 2015
  • Rubrik 80er Jahre

Deutschlands erfolgreichste Fechterin

Mit dem zweifachen Olympiasieg 1988 in Seoul im Florett-Einzel und mit der Mannschaft, ihren fünf WM-Titeln und insgesamt 14 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ist Anja Fichtel eine der erfolgreichsten Fechterinnen weltweit und gilt als bisher erfolgreichste deutsche Vertreterin auf der Planche.

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Im Alter von 17 Jahren ging Anja Fichtel 1985 in Barcelona nach dem Titelgewinn mit der deutschen Florettmannschaft als bis dahin jüngste Fechtweltmeisterin in die Sportgeschichte ein. Drei Jahre später bescherte vor allem sie dem deutschen Fechtsport bei den Olympischen Spielen in Seoul/Südkorea eine Sternstunde: Mit Gold im Einzel (Silber und Bronze gewannen damals ihre Mannschaftskolleginnen Zita Funkenhauser und Sabine Bau) sowie Gold mit der Mannschaft avancierte Anja Fichtel zum Star des Fechtturniers. Den olympischen Medaillensatz der Athletin vom Fecht-Club Tauberbischofsheim vervollständigten Silber und Bronze mit der Mannschaft bei den Spielen 1992 in Barcelona und 1996 in Atlanta. 1997 beendete sie ihre Karriere. Sieben Jahre später flirtete sie mit einem Comeback, kehrte aber nicht mehr auf die internationale Fechtbühne zurück.

Anja Fichtel

Fechten

Größte Erfolge

  • Olympia-Gold 1988 im Einzel und mit der Mannschaft
  • Olympia-Silber 1992 mit der Mannschaft
  • Olympia-Bronze 1996 mit der Mannschaft
  • Weltmeisterin im Einzel 1986 und 1990
  • Weltmeisterin mit der Mannschaft 1985, 1989, 1993
  • Europameisterin im Einzel 1993
  • Insgesamt 14 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften
  • Zehnfache Deutsche Meisterin zwischen 1986 und 1996

Auszeichnungen

  • Wahl zur „Fechterin des Jahrhunderts“ (2001)
  • Chevalier-Feyerick-Orden des Weltverbands FIE (1997)
  • Zweiter Platz hinter Steffi Graf bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 1988
  • Silbernes Lorbeerblatt
  • Juniorsportlerin des Jahres (1985)

Biografie

Sie war gerade acht Jahre alt, als ihre Heimatstadt Kopf stand. Tauberbischofsheim hatte seine Olympiasieger und Silbermedaillengewinner der Spiele von Montreal mit einem großen Bahnhof empfangen – und Anja Fichtel kam zum ersten Mal mit Fechten in Berührung. Ein Freund ihres Bruders erzählte dem Mädchen, dass es im Fechtzentrum sogar einen Fernsehapparat im Speisesaal gäbe. Das wirkte. Anja Fichtels Weg war vorgezeichnet. „Denn jedes Kind, das nur in die Halle reinschnupperte, wurde sofort von Emil Beck eingefangen.“

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Sie war nicht irgendein Kind, diese Anja Fichtel. Ihren Namen habe er auf einen Zettel geschrieben, wenn er nach kommenden Olympiasiegern aus dem von ihm begründeten Fechtzentrum gefragt wurde, erzählte Emil Beck später. Gesagt hat der große Trainer es ihr nicht während ihrer aktiven Zeit. Er forderte Leistung, nicht nur von ihr. Alle Kinder sollten die gleiche Chance bekommen. Anja Fichtel wurde unter Becks Fittichen trainiert von Degen-Olympiasieger Alexander Pusch und wurde zu einer der erfolgreichsten Fechterinnen der Welt: Olympiasiegerin allein und mit der Mannschaft, zweimal Einzel-Weltmeisterin, dreimal mit dem Team, sie gewann zehn deutsche Meisterschaften und wurde zur Fechterin des Jahrhunderts gewählt. Schon mit 15 war sie Jugend-Weltmeisterin, zwei Jahre später bei den Junioren, im selben Jahr auch schon Mannschafts-Weltmeisterin mit den Aktiven. „Ich musste ganz früh erwachsen werden, meine Jugend ist dabei auf der Strecke geblieben.“ Das scheinbar unbekümmerte Mädchen wurde zu einem Liebling der Medien, plapperte frisch drauf los, „mein Mund war manchmal schneller als mein Kopf“. In ihrer kleinen Heimatstadt war Anja Fichtel bald ein Star, „jeder hat dir auf die Schulter geklopft – da verlierst du ganz schnell das Gefühl, wer du wirklich bist“. Sie erlebte eine wunderbare Zeit, die allerdings mit einem hohen Preis bezahlt wurde. Schon in der Schule bekam Anja Fichtel die Nebenwirkungen des Erfolgs zu spüren, Neid von Mitschülerinnen. Wie ein Spießrutenlaufen empfand sie es oft, wenn sie sich in der Stadt sehen ließ. „Alle kannten mich, aber ich kannte natürlich nicht jeden.“ Und schon hatte sie den Stempel: „Die grüßt ja nicht mehr, seit sie erfolgreich ist.“ Da sie ein „ausgesprochener Gerechtigkeitsfanatiker“ ist und sich unfair behandelt fühlte, zog sich Anja Fichtel zurück, kapselte sich ab. Es gab nur noch Schule, später die Ausbildung zur Bürokauffrau und vor allem Fechten für sie. „Du hast immer dieses Fechten, Fechten, Fechten. Du hast ja kein anderes Leben.“

Dieses Fechten hat ihr Momente beschert, die bleiben, sich unvergesslich eingebrannt haben. 1988, Olympische Spiele in Seoul: Im Finale um Gold stehen sich Anja Fichtel und ihre Tauberbischofsheimer Mannschaftskollegin Sabine Bau gegenüber; Zita Funkenhauser, die Dritte im Bunde von Trainer Beck, hat schon Bronze gewonnen. Als der Olympiasieg feststeht, kann sich Anja Fichtel nicht mehr halten. Sie weint, eine halbe Stunde lang, bis zur Siegerehrung, die Anspannung, der Stress brechen sich Bahn. Tränen – der Wut, der Anstrengung – hatte es schon zuvor gegeben. Emil Beck, der Unerbittliche, brachte seine Athleten oft bis an ihre Grenzen, physisch und psychisch. Im Trainingslager vor den Spielen ließ er sie in Portugal bei hohen Temperaturen Runden laufen. „Und ich kann doch nicht laufen.“ Aber Becks Worte von damals haben sich eingeprägt: „Anja, wenn sie dir die Medaille umhängen, wirst du wissen, warum das so wichtig war.“ So wichtig: die Erfüllung aller Träume.

Der zweite Olympiasieg, gemeinsam mit Sabine Bau und Zita Funkenhauser ein paar Tage später war die Zugabe – und eine Meisterleistung von Paul Neckermann. Er war unter Cheftrainer Beck zuständig für die Florettdamen und schaffte es, „uns drei Hühner so hinzubekommen, dass wir uns im Einzel gegenseitig die Augen auskratzen und trotzdem in der Mannschaft sich jede für die andere zerreißt“. Auch das prägte Anja Fichtel. „Ich habe immer wieder überlegt, wie Paul das hinbekommen hat.“ Denn das Verhältnis zu Beck wurde zunehmend schwieriger. Anja Fichtel hielt mit Kritik nicht hinter dem Berg. Mündige Athleten hatten es jedoch schwer beim großen Meister. Tiefe Risse taten sich auf, als Anja Fichtel sich in den österreichischen Fechter Merten Mauritz verliebt hatte. Beck versuchte intensiv, das Paar auseinanderzubringen. 1990 bei der WM in Lyon – Anja Fichtel wurde Weltmeisterin – setzte er sogar einen anderen jungen Mann auf sie an, wollte sie verkuppeln. „Da war es für mich aus.“ Es kam zum Bruch, Anja Fichtel zog schon kurz nach der WM nach Wien – kein leichter Entschluss für eine gerade mal 22 Jahre alte junge Frau. In Tauberbischofsheim war ihr alles abgenommen worden, Emil Beck hatte sich stets um alles für seine Fechter gekümmert.

Anja Fichtel empfand ihren Umzug wohl gerade deshalb als Befreiung. Sie genoss es, unerkannt durch die Straßen der großen Stadt zu ziehen. Sie wollte weiter fechten, das war klar. Auch Beck wollte sie nicht ganz verlieren. Er sorgte dafür, dass sie in Wien gute Trainingsmöglichkeiten bekam. Und schon beim nächsten Weltcupturnier sprachen sich die beiden aus. „Jeder hat gesagt, was ihm auf der Seele liegt. Emil hat das sehr feinfühlig gemacht – das traute man ihm ja gar nicht so zu.“ Nein, nachtragend war er nicht – und das habe sie von ihm gelernt. So trainierte sie weiter in Wien, fuhr alle sechs Wochen für eine Woche zurück an die Tauber zur intensiven Arbeit mit Beck. Sie blieb zwölf Jahre in Österreich.

Im Juni 1992 kam ihr Sohn Laurin auf die Welt, im August gewann sie mit der Mannschaft die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen von Barcelona. Fechten war so wichtig geworden in ihrem Leben, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, Olympia wegen der Geburt des Kindes zu verpassen. Im Rückblick erkannte sie erst, dass sie es vielleicht hätte anders machen sollen. Das  Kind wurde jedes Mal krank, wenn die Mutter zu einem Turnier unterwegs war. Die Belastung war Anja Fichtel anzumerken, auch Beck sah sie. Doch er kannte kein Pardon. „Du musst das hinbekommen“, sagte er. Sie wahrte den Schein, „alle denken immer, man ist so tough“. Dass sie damals funktionierte, weil sie das so gewohnt war, weil ihre Trainer das erwarteten, weil auch sie den Erfolg brauchten, wurde ihr später klar. „Privat hast du niemanden interessiert.“

Als sie mit ihrer Tochter Chiara schwanger war, erklärte Anja Fichtel im Frühjahr 1997 ihren Rückzug vom Fechtsport – schweren Herzens. Sie liebte ja diesen Sport – „und er war zur Sucht geworden“. Sie wusste, solche Glücksgefühle würde der Alltag nicht bieten. Da würde ihr niemand mehr auf die Schulter klopfen und sagen, „Glückwunsch, das hast du gut gemacht“. Und ohne den straffen Terminplan „fehlt die Struktur, du fällst in ein Loch, fühlst dich minderwertig“. Aber der Körper hatte ihr eindeutige Signale gegeben. „Es ist ja nicht so, dass ich alles aus dem Ärmel geschüttelt hätte. Es war Stress, für den Körper und für den Kopf. Meine Psyche war enorm angekratzt.“ Anja Fichtel empfand den Rücktritt als das Ende ihres Lebens als Fechterin. Auch die Ehe mit dem Sportler Mauritz litt darunter, ging in die Brüche. Anja Fichtel zog zurück nach Tauberbischofsheim, „in einem desolaten Zustand“, mit zwei kleinen Kindern. Kurz danach starb ihre Mutter. „Diese furchtbare Zeit hat mir Bodenhaftung gegeben, mich ein bisschen Demut gelehrt.“

2006 heiratete sie wieder und der jüngste Sohn Raphael wurde geboren. Ihr zweiter Mann ist neun Jahre jünger als sie, und als sie sich kennenlernten, studierte er noch – auch das sorgte in der fränkischen Kleinstadt für Aufsehen. Mit den zwölf Jahren Wien im Hinterkopf ließ sich allerdings die kleinbürgerliche Enge besser ertragen. Anja Fichtel hatte ihr Leben ohnehin neu geordnet. „Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr über den Erfolg definiere, sondern als Mensch, dass ich meine Wertigkeit selbst erkannt habe“, sagte sie. Die Familie war das Wichtigste in ihrem Leben, Fechten nur noch Nebensache – und ein Job. Sie arbeitete Teilzeit im Fechtzentrum, zunächst im Büro, später als Trainerin für den Fecht-Nachwuchs. Auch ihre beiden älteren Kinder fochten einige Jahre lang. „Leider sind sie nicht so gefördert worden wie wir früher“ – was wohl auch damit zu tun gehabt hätte, dass sie die Kinder der unbequemen Anja Fichtel seien, meinte sie. Einige im Fechtzentrum hätten nicht gewollt, dass sie genauer hinschaute, Trainingsmethoden hinterfragte.

Denn das war sie geblieben: die Unbequeme. „Ich bin eben ein Löwe – wenn auch mittlerweile ein bisschen gezähmt.“ Es tat ihr weh, zusehen zu müssen, wie das einst in der Welt führende Fechtzentrum mehr und mehr an Bedeutung verlor. Deshalb nahm sie den Vertrag an als Koordinatorin für den Nachwuchs, entwarf während einer Krankheitspause von einem halben Jahr wegen Rückenproblemen ein Konzept, mit dem Kinder für den Sport gewonnen werden sollen und kämpfte dafür, alte Verkrustungen aufzubrechen und frischen Wind in den Olympiastützpunkt zu bringen. Sie wollte zeigen, „was Fechten für ein toller Sport ist“. Sie liebt ihn nach wie vor – „ich habe ihn im Blut, ich kann nichts so gut wie fechten“.

Dabei brauchte sie die Erinnerung an alte Erfolge nicht mehr. Nicht die Bilder an der Wand des Fechtzentrums, nicht die Medaillen und Pokale. Ein Teil davon liegt im Keller ihres Vaters, ein anderer in ihrem Spind in der Umkleide des Olympiastützpunktes. „Mein Leben lief schon ein bisschen anders, als ich es mir vorgestellt hätte – aber das ist auch gut.“ Sie gewann, auch inspiriert durch ihren Mann, der Lehrer für Englisch, Deutsch und Religion ist, ein Gottvertrauen. „Und das macht das Leben leicht.“ Sie lernte, nicht jedes Problem selbst lösen zu müssen: „Verpacke es und schicke es nach oben, schicke es Gott.“ Sie, die aus dem Kampf kam, kann mittlerweile „einfach auch etwas sein lassen“. Sie lässt sich nicht beliebig vermarkten, Geld ist ihr nicht wichtig. In ihrem zweiten Leben zählen andere Werte. „Und so bin ich richtig glücklich.“

Christine Moravetz, September 2015

Literatur zu Anja Fichtel:

Deutscher Fechter-Bund, Andreas Schirmer: En Garde! Allez! Touché!: 100 Jahre Fechten in Deutschland – eine Erfolgsgeschichte. Aachen 2011


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