Biathlon
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Besondere Biografie
Antje Harvey wurde stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie im Kampf gegen Doping“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.
Sensationelles Comeback: Nachdem Antje Harveys Leistungssportkarriere in der DDR beendet scheint, kämpft sie sich nach der Wende ins deutsche Biathlon-Team - und gewinnt Gold in Albertville.
Nach dem Triumph sagt sie: "Der Sieg gehört meinem Vater". Dieser hatte sich mit ihr gegen die Dopingpraktiken der DDR gestellt.
Antje Harvey hat sich nicht erst nach ihrer sportlichen Karriere im Kampf gegen Dopingbetrug engagiert. Die Biathlon-Olympiasiegerin von 1992 in Albertville, damals unter ihrem Mädchennamen Misersky, scheute bereits während ihrer aktiven Zeit in der DDR-Diktatur nicht die Konfrontation mit denen, die das staatlich verordnete Doping-System mitverantwortet haben. Sie bewies in bewundernswerter Weise, dass Spitzensport auch ohne Doping möglich ist. Ihre hartnäckige Weigerung, als ehemalige DDR-Skilangläuferin Dopingsubstanzen einzunehmen, führte zu Repressalien und 1985 zum Ausschluss aus dem Leistungssport. Dennoch gab es ein Happy End.
Antje Harvey hat sich sehr darüber gefreut, als sie von der Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports gemeinsam mit ihrem Vater erfuhr: „Wir fühlen uns als Stellvertreter für die, die all die Jahre in Ost und West für einen sauberen und fairen Sport eingetreten sind.“ Wie gewohnt, gibt sie sich bescheiden: „Eine solche Ehrung berührt mich schon sehr. Viele andere vor mir hätten diese Auszeichnung auch verdient.“ Die Würdigung ehrt ihrer Meinung nach die ganze Familie Misersky, die aufrecht der SED-Diktatur immer wieder die Stirn bot. Vater Henner, in den sechziger Jahren ein guter Mittelstreckler und Hindernisläufer, wurde als Skilanglauftrainer 1985 aus dem Sport-Club Motor Zella-Mehlis entlassen, weil er und seine Tochter Antje das kurz zuvor verkündete neue DDR-Skiverbandsprogramm, das auch den betrügerischen und illegalen Einsatz von gefährlichen Hormonpräparaten zum Inhalt hatte, nicht mittragen wollten. Die Fälle von geschädigten Neugeborenen häuften sich. Aufkommende Angst und die steigende Ungewissheit bezüglich der von DDR-Wissenschaftlern entwickelten Mittel und Methoden hatten zudem die Freude am sozialistischen Leistungssport überlagert.
Heute herrscht Klarheit über das flächendeckende Staats-Doping in der DDR und die verheerenden Gesundheitsschäden. Selbst die in der DDR nicht zugelassene und vom VEB Jenapharm hergestellte Steroidsubstanz STS 646 wurde im Skilanglauf eingesetzt, Hormontabletten wurden in Vitamingetränken aufgelöst und Testosteronpräparate gespritzt, ohne dass die Athleten davon Kenntnis hatten, wie es der damalige DDR-Ski-Verbandsarzt Hans-Joachim Kämpfe aus Kreischa (IM „Schmied“) Mitte der achtziger Jahre mit buchhalterischer Genauigkeit als Spitzel dem DDR-Geheimdienst – der Stasi – berichtete. Auch Heike, die drei Jahre ältere Schwester von Antje, war bis zu Beginn der achtziger Jahre als gute Skilangläuferin im Sport-Club in Zella-Mehlis aktiv. Die Stasi wollte, dass sie ihre Kameraden und die Familie bespitzelt. Heike Misersky erzählte damals ihren Eltern davon und distanzierte sich von den Stasi-Werbern.
Die ganze Familie geriet nach der Dopingverweigerung in Sippenhaft. Antje Misersky, mit 17 Jahren bereits Bronzemedaillen-Gewinnerin bei den Nordischen Ski-Weltmeisterschaften mit der DDR-Langlaufstaffel 1985 in Seefeld, kam auf eine schwarze Liste. Sie durfte nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen, selbst als DDR-Skilanglauf-Meisterin nicht den Titel verteidigen. Nur bei Volksläufen war ein Start noch möglich. Die DDR-Presse samt deren gleich geschaltete Sportjournalisten schwieg beharrlich darüber, lediglich in den Ergebnislisten durfte der Name Misersky noch auftauchen.
Der Bruch mit dem Leistungssport setzte damals ein Achtungszeichen. Immerhin hatte Antje bereits als Jugendliche mit 17 Jahren auch international schon beachtliche Erfolge erzielt und das Reisen in westliche Länder zu Zeiten des Kalten Krieges war ein nicht zu unterschätzender Motivationsgrund für die tägliche Schinderei im Training. Doch der Verzicht auch auf diese Reise-Privilegien, von denen die allermeisten DDR-Bürger nur träumen konnten, spricht für den selbstkritischen und ehrlichen Charakter von Antje Misersky, die sich bereits als Jugendliche nicht uneingeschränkt dem DDR-Sportsystem preisgeben wollte. An eine Rückkehr in den Spitzensport dachte sie damals nach ihrem Ausstieg „nicht mal im Traum“. Die Thüringerin nahm ein Sport- und Pädagogik-Studium in Potsdam auf, wo sie „eine gute sportliche Allround-Ausbildung erhielt und auch einen Einblick in die Trainingslehre bekam“.
Die Aufgabe der Leistungssportkarriere im Sommer 1985 war für Antje Harvey im Rückblick „ein kleiner Preis für all das Gute, was mein Auftreten gegen Doping für mich gebracht hat“, sagte sie im Frühjahr 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sich nicht dem Willen der gewissenlosen Sport-Funktionäre und Mediziner in der SED-Diktatur unterworfen zu haben und „heute in den Spiegel schauen zu können“, ist für Vater und Tochter Misersky „von großem Wert“. „Ich konnte mir treu bleiben, brauche nicht mit Reue auf diesen Lebensabschnitt zurückzuschauen.“
Vier Jahre nach diesem abrupten Karriereende begann für Antje Misersky im Juli 1989 ihr sportliches Comeback als Biathletin im DDR-Armeesportklub Oberhof. Nachdem dort eine Damen-Biathlon-Trainingsgruppe gegründet worden war, um bei den Olympischen Winterspielen 1992 für die DDR Medaillen gewinnen zu können, wurde sie von einem Trainer mangels Alternativen angesprochen. Nach anfänglicher Skepsis und langem Zögern folgte sie dem Rat ihres Vaters, es doch wenigstens einmal zu versuchen. Ihre innige Zuneigung zum Sport gab letztendlich den Ausschlag, auch wenn diese Rückkehr in den Leistungssport von einigen Sportfunktionären attackiert wurde. „Das Schießen klappte ganz gut und so habe ich gedacht, ich probiere es einfach, natürlich vorausgesetzt, dass ohne Dopingmittel wie Anabolika gearbeitet wird.“ Dass sie wegen des Comebacks im Armeesportklub in Oberhof in die Nationale Volksarmee eintrat, wenn auch nur für vier Monate, „war damals ein riesiger Gewissenskonflikt“. Verknüpft mit dem Wiedereinstieg war der bei Antje Misersky im Hinterkopf schlummernde Fluchtgedanke, bei einem Start im westlichen Ausland das Land verlassen zu können.
Doch nur kurze Zeit darauf, am 9. November 1989, fiel die Mauer. Und gut zwei Jahre und drei Monate später krönte Antje Misersky ihre Karriere als Skijägerin im französischen Albertville/Les Saisies mit Olympia-Gold über 15 Kilometer und mit zwei Silbermedaillen über 7,5 Kilometer und mit der Staffel. Beim ersten Auftritt einer wiedervereinigten, gesamtdeutschen Olympiamannschaft nach dem Untergang der DDR und noch dazu bei der olympischen Premiere der Biathlonwettbewerbe der Frauen, eine Goldmedaille zu gewinnen, bleibt auch für Antje Harvey heute noch unvergesslich. Überglücklich fiel sie damals im Zielraum in Les Saisies ihrem Vater Henner in die Arme. Was für ein bewegender Moment! Sie hatte zudem bewiesen, dass man Doping widerstehen und trotzdem die Weltspitze erreichen kann. 1994 bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer (Norwegen) gewann Harvey mit der Damen-Staffel noch einmal Silber.
Das mit ihrem Olympiasieg verbundene Medieninteresse nutzte Antje mutig, um auf Missstände im Sport aufmerksam zu machen. Im Februar 1992 ergriff sie zusammen mit ihrem Vater Henner bei einem bemerkenswerten ARD-Fernsehinterview die Gelegenheit, auf die doping- und stasibelasteten DDR-Funktionäre und Trainer hinzuweisen, die vom Deutschen Skiverband (DSV) nach dem Mauerfall trotz mehrfacher Beschwerden und Warnungen übernommen wurden. Darunter war auch der dreifache DDR-Olympiasieger in der Nordischen Kombination, Ulrich Wehling, der im DDR-Skiverband als Funktionär ein knallhartes Regime führte. Der damalige DSV-Direktor, der Bayer Helmut Weinbuch, der im ARD-Fernsehstudio saß, wurde von den Miserskys mit dem Vorwurf der Ignoranz konfrontiert – und flüchtete sich in Allgemeinplätze. Danach flatterten den Miserskys im thüringischen Stützerbach neben anerkennenden und rührenden Schreiben auch böse Briefe, vorwiegend aus Ostdeutschland, und sogar anonyme Morddrohungen ins Haus.
Antje Harvey beendete 1995 nach WM-Staffelgold in Antholz ihre Sportlaufbahn. Sie, die Starallüren nie etwas abgewinnen konnte und damals als Athletin gerne mal Oscar Wilde las oder Dvorák hörte, fand ihr privates Glück in Übersee. Ein solch selbstbestimmtes Leben schien noch einige Jahre zuvor in der DDR nahezu undenkbar. Seit 1995 lebt sie in den USA, seit 2000 ist sie US-Staatsbürgerin. Mit ihrem Ehemann Ian, einem früheren US-Biathleten, den sie 1992 beim Weltcup in Ruhpolding kennenlernte und im Frühjahr 1993 heiratete, gründete sie eine Familie. Das Ehepaar hat zwei Kinder und wohnt in dem kleinen Städtchen Heber City im Bundesstaat Utah in einer Doppelhaushälfte mit direktem Blick auf die Rocky Mountains.
Für ihre couragierte Haltung erhielt Antje Harvey im Jahr 2005 vom Doping-Opfer-Hilfe-Verein e.V. Weinheim die „Heidi-Krieger-Medaille“. Die Auszeichnung ist nach der Kugelstoß-Europameisterin von 1986 benannt, die als Jugendliche mit großen Mengen von Sexualhormonen in der DDR gedopt wurde und sich später einer Geschlechtsanpassung unterzog und heute Andreas Krieger heißt. „Mein Weg wäre nicht ohne die ethischen Grundsätze möglich gewesen, die mir von meiner Familie vermittelt wurden“, sagte Antje Harvey zur Verleihung.
Antje Harvey findet es „gut und wichtig, dass der ehrenamtlich agierende Doping-Opfer-Hilfe-Verein den Menschen hilft, die durch das DDR-Dopingsystem um ihre Gesundheit gebracht wurden und die es heute sehr schwer haben.“ Für sie ist die Sportlerzeit heute weit weg. Diese lehrreiche Phase mit dem Glanzpunkt Olympiasieg 1992 war für sie „ein schöner, aber eben nur ein Abschnitt im Leben“. Dass sie durch den Sport den Mann fürs Leben fand, empfindet sie als großes Glück. Es lohne sich, für etwas zu kämpfen, etwas zu versuchen, dies habe sie damals beim Sport gelernt. „Allerdings nicht um jeden Preis, schon gar nicht mit Betrug und Manipulation.“
Den besonders „im Spitzensport vorherrschenden Egoismus und die gewisse Ellebogenmentalität“ kann sie heute als Mutter zweier gesunder Kinder, Hausfrau und gläubige Christin, „gar nicht mehr so recht nachvollziehen“. Zudem unterstützt sie ihren Mann, der für eine große Skiwachsfirma arbeitet, bei der Büroarbeit. „Das ist jetzt ein ganz anderes Leben, voller Erfüllung und Zufriedenheit.“
Thomas Purschke, Mai 2012