Turnen
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Die Nachwelt hat Schwierigkeiten mit Carl Schuhmann, der der erste große deutsche Athlet war. Das hat sicherlich seine Gründe in den noch nicht entwickelten Medien, die heute jede Nachricht in wenigen Sekunden um die Welt verbreiten. Es lag aber auch daran, dass die Olympischen Spiele im Jahre 1896 gerade eben geboren waren und ein Sportfest im fernen Athen kaum große Aufmerksamkeit erregte. Dann war da auch noch die Trennung zwischen dem, was man als Turnen bezeichnete, und dem, was man Sport nannte. Die Turner hielten das, was man da in Griechenland veranstaltete, für ein Treffen der „Ungläubigen“. Das galt ganz besonders in Deutschland, der Heimat von Friedrich Ludwig Jahn, dessen Lehren mitunter als Dogma betrachtet wurden. Carl Schuhmann erschien den Turn-Gläubigen wohl suspekt, weil er auch bei den Ringern und den Leichtathleten zu den Besten gehörte.
Er wurde 1869 im westfälischen Münster geboren. Der Vater war dort in einer Kaserne als Inspektor angestellt, was wohl so etwas wie ein Hausmeister war. Der Junge hatte viel Freude an allem, was mit körperlicher Bewegung zu tun hatte. Er begann in Köln eine Lehre als Goldschmied und schloss sich dort dem Allgemeinen Turnverein an. Er kam zu Erfolgen bei nationalen Turnfesten. Herausragend war da bereits 1889 der Sieg im Zwölfkampf beim Gauturnfest in Köln. Er zog weiter nach Berlin, wo er als Goldschmied eine Anstellung erhielt. Er trat einer Gruppe von Turnern bei – Leute wie Hermann Weingärtner, Albert und Gustav Flatow –, die die Idee mit den Olympischen Spielen in Athen aufnahm. Eine Unterstützung oder wenigstens eine wohlwollende Betrachtung durch den Deutschen Turner-Bund blieb aus. Im alten Kaiserreich hatte man nicht sehr viel übrig für die völkerverbindende Kraft des Sports.
Carl Schuhmann wurde in den Tagen vom 9. bis 11. April 1896 in Athen zu dem, was man hundert Jahre später einen „Star“ nennt. Er wuchs zum überragenden Athleten der damals sportlich bekannten Welt. Er wurde geprägt durch das Turnen und beeinflusst vom englischen Sport, durch den die Spiele oder die Leichtathletik in die deutschen Vereine getragen wurden. Er war nur 1,63 Meter groß und mit etwa 65 Kilo wohl kaum ein Asket. Aber die turnerische Durchbildung machte aus ihm einen gewandten Ringer und einen guten Springer. Ein stämmiger Wettkämpfer, mit Stirnglatze, die ihn älter erscheinen ließ, und einem großen Schnurrbart, wie er seinerzeit in Mode war. Die deutschen Olympiateilnehmer hatten sich so etwas Ähnliches wie einen Sportdress gekauft – ein weißes, halsfreies Trikot mit langen Ärmeln und eine graue, eng anliegende Hose mit hellem Gürtel.
Die deutsche Riege dominierte die Turnwettbewerbe und gewann die Mannschaftswettbewerbe am Barren und am Reck. Schuhmann holte sich auch noch die Einzelwertung im Pferdsprung. Die Flatow-Brüder und Weingärtner gewannen in den anderen Einzelwertungen und gehörten selbstverständlich ebenfalls zu den deutschen Mannschaften. Einen Tag später begann das Ringen, das in nur einer Klasse ohne Gewichtslimit ausgetragen wurde. Vielleicht hatte Schuhmann ein wenig Glück mit der Auslosung. Aber die Gegner waren alle bedeutend schwerer und größer. Das Finale führte Schuhmann gegen den Griechen Georgios Tsitas, der ihn um Haupteslänge überragte. Wegen Einbruch der Dunkelheit wurde der Kampf unterbrochen und am nächsten Tag fortgesetzt. Nach mehr als einer Stunde gewann der Deutsche auf Grund seiner Beweglichkeit und erhielt die vierte Goldmedaille. Dass er schließlich im Weitsprung mit 5,70 Meter den sechsten Platz belegte, wurde erst bekannt, als die Mannschaft wieder heimgekehrt war.
Die Geschichte über Carl Schuhmann hat viele Lücken, weil es keine zeitgenössischen Berichterstatter gibt. Die Historie über den Sport der Ringer in Deutschland, die sonst sehr sorgfältig geführt wird, erwähnt beispielsweise den ersten Sieger bei Olympischen Spielen mit keinem Wort. Die Turner hielten ihn nicht unbedingt für einen der ihren. Er wurde angeblich sogar für längere Zeit für Wettkämpfe gesperrt, weil er ohne ausdrückliche Erlaubnis nach Athen gefahren war. 1898 beim Deutschen Turnfest in Hamburg belegte er im Mehrkampf, dem wertvollsten Titel der Turner, den zweiten Platz hinter seinem Freund Alfred Flatow, der damals als bester Geräteturner der Welt galt.
Carl Schuhmann war sicherlich ein selbstbewusster Mann, der auch in seinem Beruf als Goldschmied erfolgreich war. In dem Ringer-Endkampf in Athen gegen den Griechen Tsitas trat er trotz seiner körperlichen Unterlegenheit auf wie einer, der von sich überzeugt ist. Der deutsche Olympia-Pionier Dr. Willibald Karl August Gebhardt (1861-1921), der Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee von 1895 bis 1909 war, schrieb in einem Bericht über die Spiele in Athen sehr selbstverständlich von Schuhmanns Sieg im Ringen. Man könnte daraus schließen, dass die intensiven Beobachter dieser neuen Szene sehr wohl von den athletischen Qualitäten Schuhmanns wussten. Sicher ist aber auch, dass die weite Öffentlichkeit wohl kaum davon Kenntnis nahm. Woher auch?!
Wie sehr die Nachwelt Schwierigkeiten mit Carl Schuhmann hatte, war noch 1933 in einem Sportlexikon zu erkennen, das zu jener Zeit Pionier-Charakter besaß. Auf einem Foto ist da Schuhmann beim Pferdsprung abgebildet – das Bild entstand wahrscheinlich in Athen, wo er an diesem Gerät siegte. Im Text wird Schuhmann nicht erwähnt. Das mochte damals, zu Beginn der dreißiger Jahre, ein Versehen sein – es kann aber auch sein, dass man mit einem Olympiasieger von 1896 nichts anzufangen wusste.
1899 war Schuhmann als Leiter der „German Gymnastic Society“ in London – ein Besuch, den er wohl auch für seinen Beruf als Goldschmied nutzte. Er nahm in Deutschland noch an vielen Wettkämpfen ausschließlich im Turnen teil. 1903 findet man seinen Namen unter den Teilnehmern des Deutschen Turnfestes in Nürnberg. Da war er 34 Jahre alt. Er war als Turnlehrer und Sportfunktionär tätig und ließ sich 1919 endgültig in Berlin nieder.
Die Spur des ersten großen deutschen Sportlers verliert sich in den folgenden Jahren und wird in der interessierten Öffentlichkeit erst wieder aufgenommen, nachdem Schuhmann 1946 stirbt. Man entdeckt, dass er noch in den vierziger Jahren versucht hat, seine jüdischen Turner-Freunde vor den Nazis zu retten. Das galt vor allem für Alfred Flatow, der dann doch deportiert und 1942 in Theresienstadt ermordet wurde.
In Berlin – Charlottenburg-Wilmersdorf – hat man 1987/88 eine moderne Sporthalle gebaut und sie nach Carl Schuhmann benannt. In der Berliner Kantstraße gibt es ein Juwelier-Geschäft unter dem Namen Carl Schuhmann. Es wird betrieben von dem Ur-Enkel des Olympiasiegers, der genauso Carl Schuhmann heißt wie sein Vater und sein Großvater. Der Familie ist es gelungen, die Medaillen, Fotos, Urkunden und Schriften über alle unruhigen Zeiten aufzubewahren.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Carl Schuhmann:
Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik Teil 1. Athen 1896 – Berlin 1936. Berlin 1997
Karl Adolf Scherer: 100 Jahre Olympische Spiele. Dortmund 1995