Turnen
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Seine ersten internationalen Erfolge feiert Helmut Banz 1954 bei der WM in Rom mit Silber am Reck und im Pferdsprung.
Bei den olympischen Spielen 1956 in Melbourne krönt er sich an seinem Paradegerät, dem Pferd, zum Olympiasieger.
Mit insgesamt 18 Deutschen Meisterschaften, vier EM- und drei WM-Medaillen sowie dem Olympiasieg ist Bantz einer der erfolgreichsten deutschen Turner aller Zeiten.
Wer rechnete schon mit den deutschen Turnern, als sie im November 1956 zu den Olympischen Spielen ins ferne Melbourne flogen? Sie waren recht alt, und mit der rasanten Entwicklung im internationalen Kunstturnen, das von den Sowjets und Japanern beherrscht wurde, hatten sie kaum Schritt halten können. Eine Bronzemedaille im Mannschaftsmehrkampf war das Ziel, sagte Helmut Bantz. „An Einzelmedaillen dachte niemand von uns, nicht einmal in der Tiefe des Herzens.“ Aber dann lag Bantz, damals 35, nach der Pflicht im Pferdsprung plötzlich ganz vorn, gemeinsam mit dem Russen Valentin Muratow.
Mit Nervosität hatte er, der am 14. September 1921 in Speyer in eine Turnerfamilie hineingeboren worden war, bis dahin wenig zu kämpfen. Den Olympiasieg dicht vor Augen, geriet er jedoch nun etwas aus der Fassung, erzählte er später in dem Buch „So weit war mein Weg“. Am Abend vor dem 6. Dezember 1956, der in der Kür die Entscheidung bringen sollte, kam er kaum zur Ruhe. „Vor dem Einschlafen sprang ich hundertmal meinen Kürsprung – und jedes Mal meinen schönsten Hecht in den sichersten Stand.“
Beim ersten seiner zwei Kür-Sprünge vor 5.000 Fans im West Melbourne Stadium war es, als habe seine Seele den Leib verlassen. „Ich stand gleichsam außer mir selber und beobachtete mich selbst.“ Nie habe er in der Aktion so viel nachgedacht, so Bantz. Das Ergebnis: „Der Sprung war nur mittelmäßig.“ Erst ein Zuruf aus seiner Mannschaft – „Helmut, spring wie sonst!“ – löste die Anspannung. „Ich ging an den Anlauf, ohne mich lange zu konzentrieren lief ich los, sprang hoch hinaus und kam sicher in den Stand.“ Nicht einer seiner besten Hechtsprünge, aber noch sehr gut, wie er am Jubel seiner Kameraden erkannte.
Die Jury bewertete dennoch seine Übung nur mit 9,45 Punkten. Das erschien zu wenig für den obersten Platz auf dem Treppchen, da in der dritten Gruppe, die sechs Stunden später turnen sollte, noch viele ausgezeichnete Spezialisten kamen, der Schwede Thoresson und die Russen Muratov und Titov. Das große Zittern begann für Bantz. Aber dann scheiterten alle Favoriten – bis auf Muratov, der es ebenfalls auf nur auf 9,45 Punkte brachte. Damit lag Bantz gemeinsam mit dem Russen ganz vorn. Bis zu den Olympischen Spielen 1972 in München, als Klaus Köste am gleichen Gerät gewann, war Bantz der einzige deutsche Turn-Olympiasieger nach dem Zweiten Weltkrieg.
So unverhofft dieser Triumph in Down Under auch war – aus dem Nichts kam er nicht. Bantz hatte bereits erfolgreich bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki (9. Platz im Mehrkampf) geturnt und bei der Turn-WM 1954 in Rom, die im neu erbauten Olympiastadion in großer Hitze stattfand, im Pferdsprung und am Reck zwei Silbermedaillen errungen, zudem Bronze am Barren. 1955 wurde er Europameister im Pferdsprung. Vor allem hatte er, der nach eigener Aussage „niemals besonders trainingsfleißig gewesen“ war, 1954 sein Übungsprogramm auf fünf Einheiten die Woche und durch zusätzliche Läufe seine Kondition deutlich erhöht.
Die späte Blüte des Turners, der stets mit Brille turnte, die er sich mit Pflastern fest ins Gesicht klebte, provozierte diese Frage: Zu welchen Erfolgen hätte sein großes Bewegungstalent ohne den Krieg noch geführt? Als Junge hatte Bantz mit großer Leidenschaft in einer Straßenmannschaft („Lochacker“) im Fußballtor gestanden, bis sein Vater, der als Turnwart im TV Speyer amtierte, seine Fußballschuhe im Ofen verbrannte. Auch im Wasserspringen hatte es Bantz in der Jugend in die nationale Spitze gebracht.
Erst als er 1935 die Deutschen Meisterschaften im Kunstturnen in Frankfurt besuchte, war der 14-Jährige vom Auftritt der Könner Alfred Schwarzmann, Ernst Winter, Konrad Frey und Walter Steffens so begeistert, dass er sich dem Turnen intensiv zuwandte. Dieses Erlebnis habe ihn motiviert, diesen Vorbildern nachzueifern und seine Grenzen auszuloten, berichtete Bantz später und betonte „die Kraft des Beispiels, das gerade die Meister immer wieder der Jugend geben“.
Es folgte ein rasanter Aufstieg. 1939 siegte der Pfälzer erstmals bei den Hallenkampfspielen der HJ in Stuttgart, den Deutschen Jugendmeisterschaften, und spekulierte auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen 1940 in Helsinki, die wegen des Krieges abgesagt wurden. Nach einem starken Auftritt bei den Deutschen Meisterschaften 1941 in Karlsruhe erhielt er seine erste Berufung in die Nationalmannschaft und feierte am 15. März 1942 in der Berliner Deutschlandhalle seinen Durchbruch, als er bei einem Dreiländerkampf gegen Ungarn und Italien brillierte.
Kurz darauf, im Mai 1942, wurde er erstmals Deutscher Meister im Zehnkampf – insgesamt kam er auf 18 nationale Titel. „Sein Schwung hat die Eleganz eines Walter Steffens, die Kühnheit seines Turnens erinnert an Schwarzmann und Stangl, deren Kampfgeist und innere Sicherheit ihn ebenfalls auszeichnet“, würdigte ihn damals der Fachjournalist Josef Göhler. Nach dem Reichsarbeitsdienst hatte er von den Trainingseinheiten in der Berliner Luftwaffe stark profitiert, zu der er im April 1941 stieß. Parallel dazu wurde er Mitglied der NSDAP (Antrag 22. April 1941, Aufnahme am 1. Juli 1941, Nr. 8.747.455).
Bantz, der aus einem sozialdemokratischen Haus stammte und nach seiner Karriere im Sportbeirat der SPD saß, verschwieg diese Vergangenheit später. Als Funker ersuchte er dreimal um die Versetzung an die Front, bis er im Sommer 1942 an der Ostfront eingesetzt wurde. Abgesehen von einer Verwundung im Januar 1943 blieb Bantz, der sich im Sommer 1943 zu den Fallschirmjägern meldete, im Krieg unversehrt. Ende März 1945 in Wesel geriet er in englische Kriegsgefangenschaft, die er in einem kleinen Lager in Horbling bei Sleaford verbrachte.
Wie der Sporthistoriker Robin Streppelhoff rekonstruiert hat, arbeitete Bantz vom Sommer 1947 bis Herbst 1948 dort als landwirtschaftlicher Helfer auf einem Bauernhof, spätestens am Ende des kalten Winters 1947/48 erlangte er dabei größere Freiheiten. Jedenfalls konnte er am 3. April 1948 bei den Britischen Meisterschaften in Leicester auftauchen. Dort erweckte er großen Eindruck, indem er die Pflichtübung für die Olympischen Sommerspiele in London 1948 ohne Handschutzriemen und ohne jedes Training aus dem Stand turnte. „Ich habe bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen niemals so viel Herzklopfen gehabt wie damals“, erzählte er später.
Als die Übung klappte, „war natürlich der Bann gebrochen“. Bantz, der inzwischen nahezu perfekt Englisch sprach, wurde zu den Lehrgängen eingeladen und coachte den britischen Olympia-Kader. So kam es, dass er, der ehemalige Kriegsgefangene, offiziell in die britische Mannschaft eingereiht und als Trainer zum einzigen deutschen Olympiateilnehmer in London wurde. Das Klima in der Vorbereitung war so gut, dass ihm der Verband sogar die Einbürgerung offerierte, um ihn für Großbritannien starten zu lassen.
Das lehnte Bantz zwar ab, ebenso wie das Angebot, gemeinsam mit der britischen Mannschaft bei der Eröffnungsfeier einzulaufen. Er nahm mit der Tribüne vorlieb. „Die Tränen standen mir in den Augen, als meine Jungens an mir vorbeimarschierten und zuwinkten und zuriefen“, schrieb er zwei Jahre später. „Ich selbst komme mir etwas fremd vor mit meiner weißen Hose, blauen Jacke und dem Union Jack auf der Brust und Barrett auf dem Kopf, aber im Innersten bin ich doch stolz, nicht nur diese Uniform tragen zu dürfen, sondern auch aktiv an den Spielen als einziger Deutscher teilnehmen zu dürfen.“
Noch in seiner aktiven Karriere kehrte er zweimal zu seinen Freunden nach Großbritannien zurück, um Lehrgänge zu leiten. Als Dozent an der Deutschen Sporthochschule Köln (1953-1984), wo er im Sonderfach Fußball von Bundestrainer Sepp Herberger examiniert worden war und an der er mit großen Trainern wie Hennes Weisweiler zusammenarbeitete, ließ er diese Verbindung nie abreißen. Auch als langjähriger Funktionär im Deutschen Turnerbund (DTB), für den er das Stützpunkttraining aufbaute, freute er sich über das Wiedersehen. Die Olympia-Uniform von 1948 verwahrte Bantz, der am 3. Oktober 2004 nach langer Krankheit in Pulheim bei Köln starb, bis zu seinem Lebensende in seinem Kleiderschrank.
Erik Eggers, Dezember 2024
Quellen und Literatur zu Helmut Bantz:
Bundesarchiv, BArch_R_9361-IX_KARTEI_1390277 (NSDAP-Mitgliederkartei)
Helmut Bantz: „Ich erlebte die Olympiade in London“. In: Köhlers Sport-Kalender, S. 106-110, Minden 1950
Helmut Bantz: So weit war mein Weg. Frankfurt/Main 1958
Robin Streppelhoff: „Helmut Bantz“. In: Hartmut Harthausen (Hrsg.): Pfälzer Lebensbilder (Band 8, S. 199-209) 2014