Turnen
Turnen
Nach seinem Triumph bei der Turn-EM 1973 gibt Eberhard Gienger sein Debüt auf der großen internationalen Bühne bei der Turn-WM in Varna.
Nach seiner Karriere bleibt er dem Sport in vielfältigen Funktionen erhalten, u.a. als Mitglied des NOKs und Mitglied des Stiftungsvorstands der Deutschen Sporthilfe, die er seit 1999 als Kurator unterstützt.
Beruflich machte er sich einen Namen als Werbemanager, aber insbesondere auch als Quereinsteiger in die Politik : Von 2002 bis Ende 2021 war er ununterbrochen Mitglied des Deutschen Bundestags und bis zuletzt Fraktionssprecher der CDU/CSU im Sportausschuss.
Wenn man Eberhard Gienger ein Siegertreppchen hinstellt, und er soll seine größten Leistungen dort platzieren – was wird dann wohl ganz oben landen? Der Weltmeistertitel? Olympiabronze? Oder gar der Gienger-Salto?
Fangen wir mit dem an, was in die Gegenwart ragt, was länger dauert als seine Karriere. Was auch heute noch zu besichtigen ist in den Sporthallen der Welt. Der Gienger-Salto. Ein Rückwärtssalto gebückt mit halber Längenachsendrehung zum Wiederfangen am Reck. Ist das Ihr Platz eins, Herr Gienger? „Nein“, sagt er. Denn eigentlich ist die Erfindung des Gienger-Saltos einfach eine neue Interpretation. Und nicht einmal eine geplante. Gienger wollte einen Deltschew-Salto turnen. Jetzt wird es für einen Moment speziell: Deltschew turnte aus einer Drehung direkt einen Salto vorwärts mit gegrätschten Beinen. Doch Gienger unterbrach beim Salto rückwärts mit halber Drehung und Grätschen der Beine die Längenachsendrehung. Erst als er die Beine geschlossen ließ, schaffte er es. Dadurch entstand ein Flugteil am Reck, das auf ewig seinen Namen trägt.
Doch das reicht nicht für Platz eins auf seinem persönlichen Treppchen. „Ich glaube schon, es ist der Weltmeistertitel“, sagt Gienger. Gewonnen 1974 in Warna, am Königsgerät der Turner, dem Reck und zu einer Zeit, da Weltmeisterschaften im Turnen nur alle vier Jahre stattfanden. Der Titel macht Gienger zu einem herausragenden Athleten seines Sports und des Sports in der alten Bundesrepublik insgesamt. Er wird 1974 Deutschlands Sportler des Jahres, 1978 noch einmal. Zwei zweite Plätze kommen am Reck bei Weltmeisterschaften noch hinzu und einmal Silber am Pauschenpferd.
Dann bleibt für Platz zwei auf dem Treppchen also die Olympiamedaille in Montreal. Nur knapp hinter dem Weltmeistertitel, wie Gienger findet. „Bronzemedaillengewinner sind glückliche Medaillengewinner“, sagt er. Silber, das wäre eben verlorenes Gold. Aber Bronze, das ist die gegen den Viertplatzierten gewonnene Medaille. Es hätte auch etwas mehr werden können. Aber die Kampfrichter, sagt er, hätten es nicht ganz so gut gemeint mit seiner Reckübung. Sei’s drum. Die Kampfrichter machen viel aus, aber Gienger hadert nicht. „Ein Computer kann eben keine Reckübung bewerten.“
Dass Gienger überhaupt Weltmeister und Olympiadritter werden konnte, ist ein Sieg des Turnens im Wettstreit der Sportarten. Gienger, 1951 in Künzelsau, Hohenlohe, geboren, spielt eigentlich Fußball, fühlt sich dann aber auch vom Turnen angezogen. Er sei „vom Sport beseelt“, sagt Gienger, und auch alles, was nach seiner Turnkarriere folgt, hat immer irgendwie mit Sport zu tun, seien es die Marketingtätigkeiten in der Industrie oder seine politische Arbeit. Ja, der Sport hat ihn auch politisiert. 1980 war das.
Es ging eigentlich nur um Olympische Spiele. Aber auf einmal ist Olympia auch Weltpolitik. Truppen der Sowjetunion waren in Afghanistan einmarschiert. Und die Olympischen Spiele sollen in Moskau stattfinden. Westliche Staaten überdenken ihre Teilnahme, auch die Bundesrepublik, und damit ist Giengers Start gefährdet. Für ihn steht zwar nicht so viel auf dem Spiel wie für Guido Kratschmer, für den die Goldmedaille im Zehnkampf schon reserviert zu sein scheint. „Aber ich wollte schon ganz gerne Olympiasieger werden“, sagt Gienger. Im deutschen Sport gehört er damals dem Beirat der Aktiven an, der zusammen mit Thomas Bach gegen den drohenden Boykott kämpft.
Helmut Schmidt lädt den Beirat und Verbandsvertreter ins Bundeskanzleramt ein. Und referiert dort vor ihnen über die Weltpolitik, woran sich Gienger heute noch lebhaft erinnert. Die Bundesrepublik müsse Solidarität mit den Amerikanern zeigen, sagt er. Ihr könnt ruhig fahren, sagt der Kanzler den Sportlern und Verbandsvertretern, aber dann müsst ihr alles selbst bezahlen. Da verliert auch Gienger langsam den Glauben, dass es mit seiner Olympiateilnahme noch etwas wird.
Das Nationale Olympische Komitee stimmt dann mit 59 Stimmen zu 40 für den Boykott. Und was macht Eberhard Gienger? Veranstaltet sein eigenes Olympia, wie er sagt. „Ich habe mit meiner Frau in Tübingen ein Haus gekauft und meine ganze olympische Energie in den Umbau reingesteckt.“ Dort wachsen auch die drei Söhne auf.
Der Olympiaboykott machte Politik für ihn dennoch interessant. Und dass er seit 2002 als Abgeordneter für die CDU im Deutschen Bundestag sitzt, hat auch ein wenig mit den Ereignissen von damals zu tun. Politik ist für ihn wie der Sport zwar Wettbewerb, aber verbissen ist er dort nicht geworden. „Ich bin ein Mensch, der auf andere zugehen kann, als Optimist geboren und als solcher auch aufgewachsen“, sagt er, „und ich bin mit einem ordentlichen Selbstbewusstsein ausgestattet“.
Er hat auch schon einiges aushalten müssen in seiner Zeit als Abgeordneter. Da war die ständige Kritik, er sei Diener zweier Herren, als er zugleich Vizepräsident des Bereichs Leistungssport im DOSB war. Vertritt er nun den Sport in der Politik? Oder die Politik im Sport? Nach einer Wahlperiode gibt er sein Ehrenamt ab, auch ein wenig entnervt vom ständigen Rechtfertigungsdruck.
Eine andere kritische Situation entsteht nach einem Interview, in dem er darüber spricht, nach einer Operation mit einem anabolikahaltigen Medikament behandelt worden zu sein. „In meinem Oberschenkel war wohl ein Nerv getroffen, die Muskulatur war atrophiert. Ich weiß nicht, ob es eine andere Behandlungsmöglichkeit gegeben hätte“, sagt er heute, „aber ich habe natürlich das Feld für eine Diskussion eröffnet.“ Zumal sein behandelnder Arzt eben Professor Armin Klümper von der Sportmedizin an der Uni-Freiburg war, für die einen ein Genie. Für die anderen ein Doping-Arzt. Wie nach dem Interview manche Journalisten, Politiker und Sportfunktionäre mit ihm und über ihn geredet haben, das hat ihn getroffen. „Ich bin seitdem misstrauischer geworden.“
Dabei ist insgesamt seine Erfahrung, dass es gerade im Sportausschuss des Bundestags freundlicher zugehe, weil man ein gemeinsames Ziel habe, den Sport zu stärken. In seiner Fraktion ist er zum sportpolitischen Sprecher aufgestiegen.
Sein Menschen- und Weltbild bleibt geprägt durch den Sport. Andere Menschen dürfe man nicht von oben herab behandeln, sagt er. „Jeder Mensch kann etwas.“ Und damit das nicht nur als Sinnspruch stehen bleibt, erzählt Gienger diese Geschichte: Er war Mitte 20 und „voll im Saft“ als er bei einer Veranstaltung mit einer älteren Frau einen kleinen Wettkampf bestreitet. Sie sitzt im Rollstuhl, er setzt sich auch in einen, und beide müssen eine Strecke abfahren und zwischendurch einen Ball in den Korb werfen. „Als ich gerade den Ball in den Korb geworfen hatte, da ist sie schon durchs Ziel gefahren“, erzählt er. Als er ihr dann zum Sieg gratulierte, nahm sie seine Hand und legte sie an ihre Wange. „Das berührt mich noch heute.“ Er hätte das nicht sagen müssen, man sieht es auch an seinen feuchten Augen.
Die menschliche Dimension des Sports ist es, die ihn begeistert, auch deshalb ist er zufrieden mit seiner eigenen Karriere, weil darin schließlich einiges passiert ist, was sich nicht betiteln oder bepunkten lässt. Wie die Geschichte mit Wolfgang Thüne. Der Turner aus der DDR war 1974 bei der WM hinter Gienger Zweiter geworden. Bei der Europameisterschaft 1975 in Bern wollte Gienger gerade seinen Titel am Reck beim Bankett feiern. Er studiert zu dieser Zeit an der Universität Mainz und schließt das Studium als Diplom-Sportlehrer ab. „Da kam jemand zu mir und sagte, der Thüne hat sich auf der Toilette beim Bankett eingeschlossen, er will in den Westen abhauen und du sollst ihm helfen.“
1972, auf einer Zugfahrt zu einem Wettkampf von Riga nach Moskau hatten die beiden Turner besser kennen gelernt. „Bei einem Glas Wein haben wir uns dann auch etwas persönlicher unterhalten.“ Daher rührte wohl auch Thünes Vertrauen in Gienger und deshalb fragte er auch später nach ihm als Fluchthelfer. Beim Abschlussbankett besprachen sich die beiden kurz. Gienger wartete vor dem Hotel in seinem Wagen auf ihn, einem Opel Manta, „aber ohne Fuchsschwanz und Ellenbogen aus dem Fenster“. Dann flog erst ein Paket mit Thünes Habseligkeiten aus dem Fenster, kurz darauf schlenderte dann auch Thüne selbst möglichst lässig aus dem Hotel, immer in der Sorge, Aufpasser der Staatssicherheit könnten ihn noch aufhalten. Mit seiner heutigen Frau und einem Kampfrichter fuhr Gienger Thüne über die Grenze. Es ist eine Sache, auf die Gienger heute noch ein bisschen stolz ist, obwohl er erst nach der Wiedervereinigung davon erzählt hat. „Ich bin bis dahin einfach nicht danach gefragt worden“, sagt Gienger.
Neben all den persönlichen Begegnungen und seinen vielen Reisen ins Ausland, schätzt Gienger am Sport vor allem dies: Dass es immer um Ziele geht. „Ziele zu haben, das bringt mich voran.“ Es hat ihm auch dabei geholfen, eine der schmerzhaftesten Zeiten in seinem Leben zu überstehen. Einen Unfall mit dem Fallschirm im Jahr 2000. Kurz vor der Landung drehte eine Windböe seinen Fallschirm um, Gienger steuerte dagegen, knallte aber nach einer 180 Grad-Drehung auf den Boden und brach sich vom Bauchnabel abwärts fast alle Knochen. Als er auf der Narkose aufwachte, war einer seine ersten Gedanken: Ich möchte wieder turnen und Fallschirmspringen können. In der Reha sagte ihm eine Krankenschwester: Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Schuheanziehen. Nein, das mache ich schon selber, entgegnete Gienger. Worauf die Schwester erwiderte: An solchen Kleinigkeiten erkennt man diejenigen, die es schaffen. „Ein Ziel zu haben, ist besser als jede Pille“, findet Gienger.
Mit seiner Familie hat er noch ein Ziel. Die 40. „40 ist für die Schwaben eine besondere Zahl. Mit 40 wird der Schwabe g’scheit, sagt man.“ Bisher hätten sie alle zusammen 39 Deutsche Meistertitel gesammelt, er als Turner, seine Frau als Sportgymnastin, sein Sohn Markus beim Baseball. Die Hoffnung liegt nun auf der Enkelin. Bayerische Jahrgangsmeisterin im Eiskunstlaufen ist sie schon.
Und in der Politik lässt ihn etwas anderes nicht los. Die tägliche Sportstunde in der Schule. Auch wenn darüber nicht der Bundestag befindet, sondern jedes einzelne Bundesland. „Aber ich möchte die Landespolitiker dahingehend überzeugen, wie wichtig Bewegung und gesunde Ernährung sind. So wie mir auch die Stärkung des Ehrenamts am Herzen liegt.“ Da möchte er dranbleiben. Einen Beitrag leisten. Wenn davon etwas umgesetzt würde, könnte das auch das Treppchen seiner persönlichen Leistungen noch einmal durcheinanderwirbeln.
Friedhard Teuffel, Juli 2016