Turnen
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Ihre ersten olympischen Medaillen gewinnt Karin Büttner-Janz bei den Spielen in Mexiko-Stadt. Im Jahr darauf gewinnt sie unglaubliche vier von fünf möglichen EM-Titeln.
Mit einer weiteren Goldmedaille im Pferdsprung kürt sie sich zur ersten und einzigen deutschen Doppel-Olympiasiegerin im Turnen.
Karin Büttner-Janz war die überragende Turnerin der Olympischen Spiele von München 1972. Sie gewann Gold am Stufenbarren und im Sprung. Im Achtkampf mit der Mannschaft der DDR und im Achtkampf-Einzelwettbewerb holte sie jeweils die Silbermedaille, für ihre Übung am Schwebebalken bekam sie Bronze; die Bodenübung brachte ihr Platz vier, obwohl sie drei Wochen vor den Spielen bei der Landung vom Pferdsprung umgeknickt war und in München verletzt turnte.
„Jede Landung war mit starkem Schmerz verbunden“, erinnert sie sich. Eigentlich hätte sie wohl auch noch den Mehrkampf gewinnen und ihre Mannschaft zum Olympiasieg führen sollen. „Ich kann mich grob erinnern, dass mein Leistungsauftrag damals noch mehr vorsah“, sagt sie.
Kein deutscher Athlet war erfolgreicher als die zwanzigjährige Karin Janz. Sie startete in einem DDR-Team, das erstmals unter der Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz einmarschiert war und das dafür sorgte, dass diese bei zwanzig Siegerehrungen zur Hymne von Hanns Eisler aufgezogen wurde. Ausgerechnet beim Klassenfeind Bundesrepublik triumphierte die DDR mit 20:13 Olympiasiegen, mit 66:39 Medaillen, mit Platz drei in der sogenannten Nationenwertung hinter Sowjetunion und Vereinigten Staaten. „Klassenkampf?“ Karin Büttner-Janz amüsiert sich über das Vokabular der deutsch-deutschen Rivalität von gestern. „Für mich war das ein Sportwettkampf, eindeutig.“
Ihr unglaubliches sportliches Talent nutzt Karin Büttner-Janz noch heute: indem sie komplexe Sportarten allein durch Anschauung erlernt. Aufgewachsen im Flachland, beherrscht sie alpines Skifahren allein dadurch, dass sie anderen zugeschaut hat und es ausprobierte. Ihren Abschlag beim Golf verbessert sie dadurch, dass sie Aufnahmen der Meister studiert. Viel Zeit hat die zierliche, vor Energie strotzende Frau nicht für Sport, schließlich ist sie Chefärztin zweier Kliniken des Vivantes-Konzerns in Berlin sowie Professorin an der Charité. Doch sie hat sich offenbar eine unbändige Lust am Schwung bewahrt. „Ich glaube, für Ski alpin habe ich richtig Talent“, sagt sie. Nie hat die zierliche Frau von nur 1,58 Meter Größe einen Skikurs besucht, doch wenn's seit Anfang der neunziger Jahre im Winter in die Berge geht, fährt sie, „als wäre nie Sommer gewesen“. Beim Golf ist es ähnlich. Kaum hatte sie die Platzreife erworben, realisierte sie, was die Lehrer versäumt hatten ihr beizubringen. Vom Sohn lässt sie sich Sequenzen mit dem Spiel der besten Profis aufs iPhone spielen. Das ist ihr Maßstab.
Vier Titel hatte sie bei der Europameisterschaft drei Jahre vor ihren Olympiasiegen gewonnen, im Jahr darauf, 1970, war sie bei der Weltmeisterschaft zwei Mal Zweite und Erste am Stufenbarren geworden. Ein Salto am Stufenbarren erhielt ihren Namen; er ist nur eine von fünf Übungen, die sie zuerst zeigte. „Ich habe es geliebt, erfolgreich zu sein“, sagt sie. „Das mit dem Rampenlicht hat jedoch Grenzen.“
Im Jahr ihres größten Triumphes machte Karin Janz Schluss mit dem Sport und begann ein Medizinstudium an der Charité. Schon als Zwanzigjährige schien die junge Frau zu wissen, was sie heute so formuliert: „Die Basis für das Leben kann nicht der Sport legen. Die Schule schafft diese Basis.“ In Hartmannsdorf im Spreewald, ihrem Geburtsort, war sie eingeschult worden – im Elternhaus. „Ich hatte den kürzesten Schulweg der Welt“, erinnert sie sich, „drei Meter von der Küchentür zur Schulraumtür.“ Mag sein, dass der gemeinsame Unterricht der ersten vier Jahrgänge in der Zwergschule des Ortes von 450 Einwohnern sie, die Hochbegabte, vor Unterforderung bewahrte. „Mir war schnell langweilig“, erinnert sie sich. „Also habe ich geguckt, was die anderen machen.“ Als das Training bei ihrem Vater das zerbrechlich wirkende Kind nicht mehr forderte, wechselte es mit zehn Jahren nach Forst in der Lausitz und mit vierzehn nach Berlin. Dort lebt Karin Büttner-Janz, man hat den Eindruck: mit wachsender Begeisterung, bis heute.
Ehrgeiz, Einfallsreichtum und Erfolge bestimmten auch ihren Weg als Medizinerin. Sie ist keine, die sich in täglicher Praxis und Routine einrichtet. „Man braucht ein Händchen“, sagt sie, die zugleich operiert und forscht, lehrt und sich auf Kongressen der internationalen Konkurrenz stellt. „Das erfordert sehr viel Geist“, sagt sie, „und man muss schnell entscheiden.“ 1982 erhielt sie den Doktortitel, 1986 den Nationalpreis der DDR für eine künstliche Bandscheibe, die dem Patienten seine Bewegungsfähigkeit erhält. Karin Büttner-Janz versteht auch Wissenschaft als Wettkampf. Ihre Habilitation über die künstliche Bandscheibe erschien 1992 in den Vereinigten Staaten als Buch. Lange bevor die Mauer fiel, war die Erfindung in einem Hamburger Unternehmen für den internationalen Markt weiterentwickelt worden. Als die Food and Drug Administration der Vereinigten Staaten die künstliche Bandscheibe 2004 zulässt, das erste Bewegungsimplantat für die Wirbelsäule auf dem amerikanischen Markt, ist das so etwas wie ein Olympiasieg in der Wissenschaft. Das Hamburger Unternehmen verkauft die Rechte an dem kleinen Teil aus Kunststoff und Metall für einen dreistelligen Millionenbetrag nach Übersee – und Karin Büttner-Janz muss erleben, dass sie nicht beteiligt wird.
Sie stürzt sich in die Arbeit. Gemeinsam mit ihrem Sohn, der zunächst seinen Master in Software-Systemtechnik gemacht hat und nun dabei ist, sein Medizinstudium abzuschließen, hat sie zum Thema künstliche Bandscheibe einige Ideen entwickelt und zum Patent angemeldet. Wie vor vierzig Jahren ihre Turnübungen, wie heute ihren Golfschwung, werden auch die optimalen Bewegungsabläufe für das Implantat am Bildschirm entwickelt. „Ich war immer im Dauerlauf und manchmal im Sprint“, sagt sie zu ihrem beruflichen Engagement, das mit der Leitung zweier Kliniken, einem Lehrauftrag sowie Entwicklungsarbeit mit Firmen nur unzureichend beschrieben ist. Vielen zigtausenden Patienten ist die künstliche Bandscheibe bereits eingesetzt worden; der Markt für diese Wirbelsäulenimplantate ist stark gewachsen.
Schon immer haben Patienten sie erkannt und auf die Olympiasiege von 1972 angesprochen. Seit der Aufnahme in die Hall of Fame der Stiftung Deutsche Sporthilfe, hat sie den Eindruck, geschieht das noch häufiger. „Wenn man überlegt, wie viele Sportler der DDR und der Bundesrepublik olympische Goldmedaillen gewonnen haben“, sagt sie, „hat dort nur eine elitäre Gruppe ihre Ewigkeit gefunden. Es ist ein gutes Gefühl, dazugehören zu dürfen.“
Immer noch liebt Karin Büttner-Janz das Turnen. Während der Europameisterschaft in Berlin im April 2011 nahm sie sich Zeit für den täglichen Besuch der Wettbewerbe. Doch so begeistert sie von den Leistungen war, so kritisch sieht sie die Tendenz zur Professionalisierung mit zeitlich sehr einseitiger Ausrichtung auf den Sport. „Das intensivste Training fällt in eine körperliche Entwicklungszeit, in der ganz viel zu lernen ist“, sagt sie. „Ich fürchte daher, dass diejenigen, die spät in das Studium oder die Berufsausbildung einsteigen, Nachteile haben könnten.“ Jeder Schwung, auch der schönste, hat eben seine Zeit.
Michael Reinsch, Mai 2011
Literatur zu Karin Büttner-Janz:
Volker Kluge (Hrsg.): Lexikon Sportler in der DDR. Berlin 2009