Turnen
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Besondere Biografie
Friedrich Ludwig Jahn wurde stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie als Ideengeber des Sports“ in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen
Einem geheimnisvollen Mann verdankt der deutsche Sport eine frühe Sternstunde. Im Sommer 1811 gründete Friedrich Ludwig Jahn den ersten Turnplatz auf deutschem Boden. In der Berliner Hasenheide, damals noch vor den Toren der Stadt, stand die Wiege des Turnens. Der Deutsche Turnerbund (DTB) würdigte ihren Turnvater 200 Jahre später an historischem Ort als Begründer einer sportlichen Massenbewegung. Jahn selbst stand ja dabei. Überlebensgroß, 35 Zentner schwer, in Bronze.
Ist es den versammelten Turnerinnen und Turnern aufgefallen? Vom Sockel blickte kein Sportler auf sie herab! Der als Denkmal verewigte Jahn trägt Straßenkleidung. Die linke Hand ist selbstbewusst auf die Hüfte gestützt. Die rechte Hand liegt zur Faust geballt auf einem Eichenstamm. Der Bildhauer Erdmann Encke schuf 1872 nicht das Ebenbild eines Athleten, sondern das Standbild eines Patrioten.
Hätte Jahn die Festreden gehört, die ihn als Stifter einer internationalen Friedensbewegung priesen (der des Turnens) - er wäre wohl vom Sockel gestiegen und hätte rebelliert. Denn dieser Mann war kein Leisetreter. Zeitgenossen nannten ihn einen „Romantiker der Tat“. Aber war er denn überhaupt ein Sportler? Ist er hier in der „Hall of Fame“ unter seinesgleichen?
„Leistung. Fairplay. Miteinander.“ Friedrich Ludwig Jahn hätte diese Botschaft der Deutschen Sporthilfe nicht verstanden – oder er hätte sie gründlich missverstanden.
Leistung? Von ein paar Klimmzügen an einer knorrigen Eiche wird aus Jahns Leben berichtet. Ansonsten betrachtete er seine patriotischen Schriften als Lebensleistung. Fairplay? Diesen fremdsprachlichen Begriff hätte er kategorisch als „undeutsch“ abgelehnt und verbannte überhaupt jegliche „Ausländerei“.
Miteinander? Es wird bis heute gern übersehen, aber tatsächlich war 1811 sein Ruf zu den Turngeräten in der Hasenheide vor allem eine Vorschule für Befreiungskrieger.
Denn Jahns Gegner hieß nicht innerer Schweinehund, sondern Napoleon. Für den Kampf gegen den „korsischen Wüterich“ rüstete Jahn auf seinem Turnplatz die männliche Jugend. Ihn selbst nannten die Zeitgenossen später „Turnwüterich“. Fairplay? Fehlanzeige!
Das Duell begann 1806. Bonapartes Armee stellte die Preußen bei Jena und Auerstedt. „Ich warf die Feder weg, um zum Schwert zu greifen“ schrieb der damals 28-jährige Hauslehrer und Privatgelehrte in einem Brief. Doch an der Entscheidungsschlacht nahm Jahn nicht teil. Als er nach tagelanger Fußwanderung Jena erreichte, kamen ihm schon die flüchtenden Truppen entgegen. Napoleon hatte Preußen zerschlagen, über Nacht sollen Jahns Haare ergraut sein. Napoleon zog durchs Brandenburger Tor, die Franzosen besetzten Berlin.
Alles was Friedrich Ludwig Jahn nun tat, kannte nur ein Ziel: Das napoleonische Joch musste abgeschüttelt werden. Seine prominentesten Teamkollegen hießen Fichte, Schleiermacher und Arndt. Jahns erster Streich war ein Buch, denn zunächst trainierte er den Geist seiner Mitbürger. 1810 erschien Jahns „Deutsches Volkstum“, eine patriotische Streitschrift für alles Deutsche und vor allem gegen alles Fremde. Den Anhängern der französischen Sprache empfahl er darin: „Deutsche, lasset Lutetiens stehende Lache in Ruhe.“ Auch „Völkermischung“ (was auch immer er damit genau meinte) lehnte er ab und verachtete das „Plapperdeutsch der Betteljuden“. Sein Buch traf den Zeitgeist und wurde ein Bestseller. Der Autor wurde über Nacht berühmt - und berüchtigt.
Kann da jemand glauben, dass Jahn nun mit seinen Zöglingen (inzwischen war er Lehrer am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster geworden) ins Grüne wanderte, nur um „Frisch, frei, fröhlich und fromm“ zu turnen? Erfunden hatte er weder die Gymnastik, noch die Leibesübungen, aber Jahn gab der „Turnerey“ einen neuen Sinn. Dabei nannte er Körper- und Waffenübungen in einem Atemzug, denn er wusste: „Schießen mag jeder Junge gern.“ In Wirklichkeit war der Turnplatz in der Hasenheide sein zweiter Streich. Ab dem Sommer 1811 trainierte er nun auch die Körper der kommenden Krieger.
Der ersehnte Befreiungskrieg kam 1813. Viele von Jahns Gymnasiasten zogen freiwillig gegen Napoleon ins Feld. Der Turnvater selbst hatte sich dem Lützower Freikorps angeschlossen. An größeren Schlachten nahm seine Truppe jedoch nie teil. Es hieß, sie hätte sich mehrmals im Kriegsgewirr wegen mangelhafter Geografie-Kenntnisse verlaufen.
Nach Waterloo war das Duell endgültig entschieden. Bonaparte schmorte auf St. Helena, Jahn hatte sich als Erfinder des patriotischen Turnens einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Doch alles, was auf seinem Lebenswege noch folgte (Turnkunstbuch, Festungshaft, Rehabilitation, Paulskirchen-Parlament), es war im Grunde nur die Nachspielzeit seines mit Verve geführten Kampfes gegen Napoleon. Den er übrigens mit 1,70 Meter Körperlänge nur um zwei Zentimeter überragte.
Was hätte Jahn gerufen, wenn er 2011 tatsächlich von seinem Sockel gestiegen wäre? Am ehesten wohl: „Großes Missverständnis. Lest meine Schriften, statt nur Straßen, Turnhallen und Sportvereine nach mir zu benennen!“ Tatsächlich ist Jahns Name im ganzen deutschsprachigen Raum im Stadtbild verewigt. Gleichzeitig ist das Wissen über sein Leben völlig verblasst.
Doch über 200 Jahre, nachdem vor den Toren Berlins angeturnt wurde, ist es nicht wichtig, darüber zu spekulieren, wie Jahn über uns denken würde. Viel wichtiger und entscheidend ist, wie seine Erben, wie wir heute über ihn denken. Dieser Dialog mit dem Leben und Werk Friedrich Ludwig Jahns muss zugleich eine Auseinandersetzung mit der Frühgeschichte des deutschen Turnwesens sein. Sie hat gerade erst begonnen und noch sehr viele Hürden zu überwinden.
Denn Turnvater Jahn ist heute vor allem ein Mann der Legende. Den „Alten im Barte“ hat man in eine fromme Sagenwelt verrückt. Vom historischen Jahn wissen seine Jünger heute im Grunde nicht mehr als von den Gestalten der antiken Mythologie. Jahn könnte auch einem volkstümlichen Märchen entstammen. Hat er überhaupt wirklich gelebt? Er selbst ahnte übrigens, was seinem Schicksal in der Zukunft blühte. „Meine Zeit ist gewesen“, bekannte er wenige Monate vor seinem Tod und fühlte sich und sein Lebenswerk verkannt.
Er sollte Recht behalten – und auch wieder nicht. Denn selten in der Deutschen Geschichte wurde eine Persönlichkeit so missverstanden und trotzdem postum so vereinnahmt. Denn als Mythos entwickelte sich der Turnvater in Sachen Heldenverehrung zu einem Universalgenie. Jedes politische Regime - von der Diktatur bis zur Demokratie - schuf sich sein eigenes Jahn-Bild. Und es passte immer!
Der Turnvater diente im Kaiserreich als patriotischer Übervater. Arbeiterturnvereine verehrten ihn als Revolutionär. Die Nazis vereinnahmten seine Volkstum-Phrasen. Hitler würdigte Jahn zur Eröffnung des XV. Deutschen Turnfestes am 26. Juli 1933 als einen Menschen, der „verkannt, verspottet und verfolgt, doch Vater einer umwälzenden Bewegung“ wurde. Also als einen Vorläufer seiner selbst. Die Verehrung im Dritten Reich tat der Jahn-Verehrung nach 1945 weder in der DDR noch in der Bundesrepublik Abbruch. Kurz: Der Turnvater ist ein ideologischer Alleskönner. Dies gilt bis heute.
Zu viele wissen heute sehr wenig über Jahn. Viel schlimmer: Es wird viel dafür getan, dass dies auch so bleibt. Vor allem die Turner selbst verstecken die Wahrheit über ihren Gründungsvater unter einem Deckmantel der Verklärung. Warum eigentlich? Wovor fürchtet man sich? Jahns Denkmal könnte stürzen, gewiss. Doch womöglich fände man in den Scherben eine historische Gestalt, welche die Frühzeit der deutschen Turnbewegung viel authentischer repräsentiert als der sprichwörtliche Turner-Jahn mit dem langen Bart.
Gehört Friedrich Ludwig Jahn in die Hall of Fame, die er wohl eine „Halle des Ruhmes“ genannt hätte? Natürlich tut er das. Denn sein Aufschwung in der Hasenheide hat etwas in Bewegung gesetzt und einen Grundstein zu dem gelegt, bei dem heute das Motto „Leistung. Fairplay. Miteinander“ gilt. Viele Millionen folgen im 21. Jahrhundert seinem Vorbild und zwar friedlich. Ob er dies nun wollte, oder nicht. Turnvater Jahn bewegt uns auch nach zwei Jahrhunderten. Liegt darin nicht auch historische Größe?
Oliver Ohmann
Literatur zu Friedrich Ludwig Jahn:
Carl Euler: Friedrich Ludwig Jahn. Sein Leben und Wirken. Stuttgart 1881
Friedrich Ludwig Jahn: Werke. Hg. v. Carl Euler. Hof 1884-1887
Oliver Ohmann: Friedrich Ludwig Jahn. Erfurt 2009
Oliver Ohmann: Turnvater Jahn und die Deutschen Turnfeste. Erfurt 2008
Gerd Steins: Wo das Turnen erfunden wurde. Berlin 1986