Wasserspringen
Wasserspringen
Bei den Olympischen Spielen in Rom zeigt Ingrid Krämer-Gulbin eine beeindruckende Leistung und gewinnt Gold vom 3-m-Brett.
Am 27. August 1960 endete in Rom eine 40-jährige olympische Hegemonie. Zum ersten Mal wurde das Kunstspringen nicht von einer US-Amerikanerin gewonnen. Stattdessen ging die Goldmedaille an eine Deutsche, an die Dresdnerin Ingrid Krämer, über die ihre Vorgängerin Pat McCormick bewundernd urteilte: „Eine solche Springerin habe ich noch nie gesehen.“ Was die 17-jährige Oberschülerin im Foro Italico zeigte, dahinter verblasste sogar die Leistung der vierfachen Olympiasiegerin von 1952 und 1956. Mit 155,81 Punkten – 13,35 mehr als McCormick in Melbourne – gelang ihr ein noch nie erreichtes Ergebnis. Jeder der fünf Kürsprünge wurde am höchsten benotet.
Schon im neunten Durchgang, in dem Ingrid Krämer für einen anderthalb Auerbachsalto rückwärts dreimal die „9“ und viermal eine „8,5“ erhalten hatte, betrug ihr Vorsprung auf die zweitplatzierte Amerikanerin Paula Jean Pope 13,13 Zähler. Selbst mit einem misslungenen letzten Sprung wäre also ein Sieg noch möglich gewesen. Doch sie erlaubte sich keine Schwäche. Ihr anderthalb Auerbach gehechtet war den Kampfrichtern 19,44 Punkte wert – das beste Resultat der gesamten Konkurrenz.
Rückblende: Europameisterschaften 1958 auf der Budapester Margareteninsel. Gerade 15-jährig hatte Ingrid Krämer ihren ersten großen Erfolg vor Augen, als sie nach neun Durchgängen nur 3,47 Punkte hinter der Russin Ninel Krutowa auf Platz zwei lag. Der letzte Sprung – für beide der anderthalb Auerbachsalto – musste entscheiden. Krutowa startete zuerst, doch sie verpatzte. Nun fehlten Ingrid Krämer nur noch 12,71 Punkte zum Titelgewinn, doch im entscheidenden Moment wurde sie vom Glück verlassen. Bei der Streckung schlug sie mit der Hand auf das Brett, so dass sie mehr ins Wasser klatschte als eintauchte. Die Wertung fiel dementsprechend aus: 7,24 Punkte und am Ende Rang vier.
Der Goldmedaille im Kunstspringen, 1960 die erste der gesamtdeutschen Mannschaft, ließ Ingrid Krämer drei Tage danach eine weitere im Turmspringen folgen. Damit war sie die erste Deutsche mit zwei Olympiasiegen. Die Römer nannten sie „la blonda tedesca“ – die blonde Deutsche. Die Bunte machte sie zum Covergirl, und in Ost und West kürte man sie zur „Sportlerin des Jahres“ – ein einmaliger Fall.
Von einem „Wunderkind“ war die Rede, aber das war sie gerade nicht. Eher traf das Gegenteil zu. Als Kind war Ingrid Krämer ein ängstliches Pummelchen, ein „Bewegungsidiot“, wie sie sich beschrieb. In ihren Träumen jedoch sah sie sich als leichtfüßige Primaballerina. Zu gern hätte sie die Dresdner Ballettschule der Gret Palucca besucht, wozu sie aber weder Talent noch die Zustimmung der Eltern besaß.
Vielleicht war es von ihrem Vater, der Technischer Leiter einer Werkzeugfabrik war, als Trostpflaster gedacht, als er einen langjährigen Kunden zu einem „Deal“ nötigte. Als Gegenleistung für ein dringend benötigtes Trainingsmittel versprach ihm der Cheftrainer der Dresdner Wasserspringer, Reinhard Kunert, seine Tochter sportlich zu betreuen. Zwar fehlte es danach nicht an Versuchen, die unbeholfene Zwölfjährige wieder loszuwerden, doch Kunerts Assistentin Eveline Sibinski erbarmte sich. Selbst noch Mitglied im DDR-Nationalteam entschied sie: „Das Mädchen hat schöne Beine und Füße, ich übernehme sie.“
Im Nachhinein klingt es abenteuerlich, wie es der 20-Jährigen ohne jedes Studium gelingen konnte, ein angebliches Anti-Talent in die Weltspitze zu führen, die sowohl der Trainerin als auch ihrem Schützling nur aus Büchern und von Sammelbildchen bekannt war. Freilich besaß Eveline Sibinski gute Berater, neben Kunert vor allem den Praktiker Heinz Kitzig, Europameisterschafts-Zweiter von 1938 und Studenten-Weltmeister von 1939. Der DDR-Verbandstrainer besorgte Lehrfilme, die Pat McCormick zeigten. Dagegen war an Videotechnik noch nicht zu denken. Nach manchem Sprung begann oft erst das Rätselraten, ob er wohl gelungen war.
Kitzig studierte die internationale Fachliteratur und bewies Weitsicht, als er frühzeitig auf die Vielzahl neuer Sprünge hinsteuerte, die der internationale Schwimmverband vor den 1960er-Spielen in die Sprungtabelle aufgenommen hatte. Doch zu einem Direktvergleich mit den Amerikanerinnen kam es vorerst nicht. Ihnen ging wohl erst in Rom ein Licht auf, dass es die junge Ostdeutsche war, die das Programm mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad beherrschte. Ingrid Krämer beschäftigte sich mit solchen Fragen allerdings nicht. „Entweder war es Naivität oder mangelnder Ehrgeiz“, meinte sie später. Ihr Ziel war eine Bronzemedaille vom Turm oder Brett, bis sich beim gemeinsamen Training herausstellte, dass weit mehr drin war.
Die Popularität, die ihren Siegen folgte, traf Ingrid Krämer unvorbereitet. Es fiel ihr nicht leicht, mit dem veränderten Leben fertig zu werden. Praktisch übersprang sie einen ganzen Abschnitt der Persönlichkeitsentwicklung. Schon als junges Mädchen erwartete man von ihr die Abgeklärtheit einer Erwachsenen, obwohl sie häufig gar nicht verstand, was die Trainer von ihr verlangten. Sie befolgte die Anweisungen eher intuitiv.
In der Schule bekam sie nun Einzelunterricht, der ihr half, Ende 1961 ein gutes Abitur abzulegen. Doch der folgende Berufswunsch zerschlug sich. Um Mikrobiologin zu werden, hätte sie den Leistungssport aufgeben müssen. Sie begann ein Physiotherapiestudium an einer medizinischen Fachschule, sie ließ sich dann aber überzeugen, an die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) zu wechseln, die sie im Fernstudium absolvierte.
Dem „Ruhejahr“ von 1961 folgten Doppelsiege bei den Europameisterschaften von 1962 und beim Europapokal von 1963 – beides in Leipzig ausgetragen. Letztmals hatte sie 1959 verloren, eine knappe Niederlage vom Turm. Alles schien geregelt, als sie im November 1963 im engsten Familienkreis den Studenten Hein Engel heiratete – überstürzt, wie ihr bald bewusst wurde. Das Paar zog nach Rostock, wo sich Ingrid Krämer im Winter sowieso meistens aufgehalten hatte, da es damals dort die einzige Schwimmhalle der DDR mit einem 10-Meter-Turm gab.
Mit Max Kinast bekam sie einen Trainer mit großem Fachwissen, doch die Vorbereitungen auf die nächsten Olympischen Spiele standen unter keinem guten Stern. Sie litt unter einer schmerzhaften Schulterverletzung, die ein Training vom Turm unmöglich machte. Schließlich war eine Operation an beiden Knien unerlässlich. Als es nach Tokio ging, glaubte sie nicht mehr an ihr Leistungsvermögen. Dass sie unter diesen Umständen erneut im Kunstspringen gewann, womit sie die erste Deutsche wurde, die einen Olympiasieg wiederholen konnte, war eine psychologische Meisterleistung, die das Ergebnis von Rom übertraf. Hinzu kam noch die Silbermedaille im Turmspringen – nie wieder bestritt sie darin danach einen Wettkampf.
Tokio war glücklich verlaufen, doch ihre emotionale Krise blieb. Sie erlöste sich daraus durch eine Scheidung und heiratete ihre Kinderliebe – den Projektierungsingenieur Helmut Gulbin, einst selbst ein Wasserspringer. Und sie zog zurück an die Elbe, wo 1966 ihre Tochter Grit zur Welt kam.
Das wäre sicherlich der schönste Grund gewesen, um als Sportlerin abzutreten. Dass sie sich anders entschied und nochmals Olympische Spiele in Angriff nahm, zeigte, wie sehr sie es liebte, den eigenen Körper zu beherrschen. Wieder arbeitete sie hart, um ihre Serie mit dem damals schwersten Sprung zu komplettieren, unglücklicherweise erkrankte sie aber im Sommer 1968 an Gelbsucht. Gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen, versuchte sie mit wenig Training, ihre alte Form zurückzuholen, was nur teilweise gelang. In Mexiko-Stadt ärgerte sie sich über ihren fünften Platz – mit Abstand betrachtet eine große Leistung.
Danach trainierte sie zwei Jahrzehnte lang Nachwuchsspringer. Ihre bekanntesten Schützlinge waren Martina Jäschke, die Olympiasiegerin von 1980, und Jan Hempel, der 1996 Olympia-Silber vom Turm gewann. Im Auftreten bescheiden und zurückhaltend, war ihr Anspruch immer hoch: „Die Persönlichkeit darf nicht hinter der sportlichen Leistung zurückstehen.“ Es war die eigene Erfahrung, die sie jede Dressur ablehnen ließ.
Volker Kluge, Mai 2011
Literatur zu Ingrid Krämer-Gulbin:
Rolf Dietz: Goldene Sprünge. Ein Buch über Ingrid Krämer, Sportverlag Berlin 1963