1939 flieht Ludwig Guttmann, der bis zur Machtergreifung durch die Nazis Chefarzt am Wenzel-Hancke-Krankenhaus war, nach Großbritannien.
Eine Revolution – und viele folgten ihr. 1960 fanden die ersten Weltspiele des Behindertensports in Rom statt, wo auch Olympia veranstaltet wurde. Vierhundert Athleten aus 23 Ländern nahmen an den Wettbewerben in acht Sportarten teil. Ein Jahr später gründete Ludwig Guttmann den Britischen Behindertensportverband. Bei den „Weltspielen der Gelähmten“ 1972 in Heidelberg prangte auf den Bussen der US-Mannschaft die Wortkombination Paralyzed, gelähmt, und Olympics. 1984 wurden die Spiele dann offiziell Paralympics genannt. Sie fanden wieder in Stoke Mandeville statt, da der Olympia-Gastgeber Los Angeles sich weigerte, auch Sportler mit Behinderung zu empfangen. Schließlich würden diese „nicht in das professionelle Image der Spiele passen“. Ludwig Guttmann musste diese Diskriminierung nicht mehr erleben, er starb 1980 in der Kleinstadt Aylesbury an Herzversagen.
„Ohne Poppa Guttmann wären wir heute nicht so fortschrittlich, er hat uns den richtigen Weg gewiesen“, sagt Chris Holmes. Der ehemalige Schwimmer ist einer der erfolgreichsten Paralympier der britischen Geschichte. 1996 begannen die Olympia-Organisatoren von Atlanta noch vor den Paralympics mit dem Abbau der Sportstätten. „Diese Zeiten sind vorbei“, sagt Holmes, der für London 2012 die Paralympics verantwortete. „Es gibt keine Trennung zwischen Paralympics und Olympia, wir waren ein Organisationskomitee.“ Ob Transport, Technik, Versorgung: Mitarbeiter haben für beide Ereignisse geplant – erstmals in der Geschichte. Im ausverkauften Olympiastadion wurden auch die Paralympier von lautem Jubel getragen. Der britische Fernsehsender Channel 4 warb mit der Kampagne „Meet the Superhumans“, Vorhang auf für die Übermenschen. „Das Erbe von Guttmann war für uns eine Verpflichtung“, sagt Holmes. „Ich bin sicher, er wäre stolz gewesen.“
Eva Loeffler war in London Bürgermeisterin des Paralympischen Dorfes. Die Physiotherapeutin war in Großbritannien Gründungsmitglied des Nationalen Paralympischen Komitees und Vorsitzende des Rollstuhl-Sportverbandes gewesen. Sie hat im Sommer 2012 hunderte Gespräche über ihren Vater geführt. „Das hat ihn für mich wieder ein bisschen lebendig gemacht“, sagt sie. „Mein Mann und ich haben drei Wochen in diesem Dorf übernachtet. Es war eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens.“ In der Nähe von Stoke Mandeville wurde eine Bronzestatue von Guttmann enthüllt, eines der Olympia-Maskottchen hieß Mandeville, weltweit berichteten Medien über den „Coubertin der Behinderten“, wie Papst Johannes XXIII. Guttmann einst bezeichnete.
„Ludwig Guttmann ist eine Symbolfigur, die der Bevölkerung einen Zugang zu komplexen Themen ermöglicht“, sagt Rickie Burman. Die Entwicklungsmanagerin der Londoner Nationalgalerie hat bis 2012 das Jüdische Museum in Camden Town geleitet, einem lebhaften Viertel im Norden der britischen Hauptstadt. Für 2012 hatte sie eine Sonderausstellung zu Guttmann auf den Weg gebracht. Es ging ihr um Sport, jüdische Wurzeln, aber vor allem wollte sie den gesellschaftlichen Einfluss Guttmanns in den Vordergrund rücken, der bis heute spürbar ist. Guttmann war viel unterwegs, hielt Vorträge in Universitäten, Schulen und Krankenhäusern. In Deutschland beriet er unter anderem das Bundesarbeitsministerium und einige Berufsgenossenschaften. 1966 wurde er in England zum Ritter geschlagen, später wurden einige Straßen, Schulen und Sportstätten nach ihm benannt. Mit jeder Würdigung wurden seine Behandlungsmethoden bekannter, in Deutschland gibt es heute mehr als zwanzig Zentren für Querschnittsgelähmte – doch Standard ist das in Europa noch lange nicht.
Der Ursprung der paralympischen Bewegung liegt im Bewegungsangebot für Kriegsversehrte, und immer mehr scheinen die Weltspiele der Gegenwart zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Von den achtzig Teilnehmern der USA bei den Winter-Paralympics 2014 in Sotschi waren sechzehn Veteranen aus dem Irak oder Afghanistan dabei, 2010 in Vancouver waren es noch fünf. Bei der Eröffnung am Schwarzen Meer durfte der einstige Marinesoldat Jonathan Lujan die amerikanische Flagge tragen.
„Die Athleten haben eine Möglichkeit, ihre Haltung als Soldaten zu bewahren, aber nun auf dem Feld des Wettbewerbs und des Fair Play“, sagt Kevin Stone aus Detroit. Der querschnittsgelähmte Veteran hat an den Sommer-Paralympics in Athen und Peking teilgenommen. Inzwischen beobachtet er als Trainer und Journalist das Netzwerk. Stone glaubt, dass die Vision von Ludwig Guttmann nie aus der Zeit fallen wird: „Durch Sport haben viele Veteranen ihre Abhängigkeit von Alkohol und Drogen besiegt, auch die Selbstmordrate ging zurück. Sport ist für sie eine Gelegenheit, den Krieg zu verarbeiten.“ Auch die Briten haben ein Programm für Soldaten aufgelegt, die Kanadier und Israelis ebenfalls. In Deutschland steht die Kooperation zwischen dem Deutschen Behindertensportverband und der Bundeswehr am Anfang. In deren Sportschule in Warendorf können Athleten eine hochwertige Ausstattung und Betreuung in Anspruch nehmen.
Eva Loeffler ist im Jahr 2014 81 Jahre alt, sie hat die Welt bereist, doch sie ist noch nicht fertig. Sie möchte weitere Paralympics besuchen. Bevor sie im Mai 2014 dabei war, als ihr Vater in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen wird, war sie erst einmal in Berlin gewesen, als Touristin acht Jahre vorher. „Als Jude hatte mein Vater ein feines Gespür für andere Minderheiten, die auch benachteiligt wurden“, sagt sie. „Dass die Deutschen meinen Vater so warm aufnehmen, macht uns sehr stolz.“ Die Aufnahme Guttmanns in die Hall of Fame des deutschen Sports wurde im Berliner Hotel Adlon besiegelt. Drei Gehminuten entfernt vom Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.
Ronny Blaschke
Literatur zu Ludwig Guttmann:
Susan Goodman: Spirit of Stoke Mandeville: The Story of Sir Ludwig Guttmann. London 1986.
Joan Scruton: Stoke Mandeville: Road to the Paralympics. Peterhouse 1998.
Hans Schliack, Hanns Hippius (Hrsg.): Nervenärzte: Biographien. Stuttgart 1998.
Joseph Walk (Hrsg.): Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945. Jerusalem/München 1988.