Leichtathletik
Leichtathletik
1938 folgt sein bis dato größter (Einzel-)Erfolg: Harbig gewinnt den EM-Titel in seiner Paradedisziplin - dem 800-Meter-Lauf.
1939 stellt Harbig Weltrekorde über 400 und 800 Meter auf. 1941 bricht er den 1000-Meter-Weltrekord und ist damit der einzige Leichtathlet, der diese drei Rekorde gleichzeitig halten konnte.
Wahrscheinlich war er der Größte unter jenen Unvollendeten, die für das eine Sportfest zu jung, für das andere zu alt waren. Rudolf Harbig starb im Krieg – irgendwo in der Ukraine – im Alter von 31 Jahren. Man könnte sagen, er habe noch gar nicht richtig gelebt, wenn er nicht der Läufer gewesen wäre – der Beste der Welt bei vielen Gelegenheiten. Harbig hatte bereits großen Triumph erlebt, aber er erhielt keine Gelegenheit, diesen Triumph auch zu genießen. Er erhielt auch nicht die Möglichkeit, sich weiter bis zu einem Ziel zu entwickeln.
So war das nach dem Krieg: Die einen spielten Szepan und Kuzorra auf der Straße – das nannte man Straßenfußball und ein halbes Jahrhundert später richtet man Sportplätze her, um eben diesen Straßenfußball wieder zu pflegen. Andere spielten Rudolf Harbig gegen Mario Lanzi. Sie liefen um die Wette. Sie spielten – wenn man so will – Straßenleichtathletik. Wer der Beste war, galt als Harbig. So einfach ist das mit den Vorbildern.
Wer war dieser Rudolf Harbig, der bereits als junger Mann zu einer Legende wurde, obgleich er nur einunddreißig Jahre lebte. Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin war er zu jung – 1940 gab es den Krieg, der 1944 andauerte und Rudolf Harbig das Leben raubte. In Berlin hatte er für die 4-mal-400-Meter-Staffel die Olympische Bronzemedaille gewinnen helfen und damit wenigstens einmal kurz das Erlebnis dieses Festes miterlebt.
In Mailand hatten sie einen Länderkampf der Leichtathleten zwischen Italien und Deutschland arrangiert. Harbig lief die achthundert Meter gegen Mario Lanzi, dem er zuvor immer unterlegen war. Im Ziel stoppte man für ihn die Zeit von 1:46,6 Minuten – Weltrekord. Das war nicht nur irgendein Weltrekord – es war vielmehr eine Leistung, die ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus war. Manchmal wurde dieser Weltrekord von Harbig mit jenem Weitsprungrekord 1968 in Mexiko verglichen, als Bob Beamon 8,90 Meter erreichte. Der Rekord von Rudolf Harbig wurde sechzehn Jahre nicht übertroffen. Bei den Olympischen Spielen 1948 in London und 1952 in Helsinki hätte diese Leistung leicht für eine Goldmedaille ausgereicht. Dieser Rekord stand dort wie ein Denkmal. Vor allem in einer Ära, in der deutsche Sportler – ob sie nun Nazis gewesen waren oder das Gegenteil davon – politische Buße zu tun hatten. Sie waren aus dem internationalen Sport ausgeschlossen. Nicht zu vergessen: Erst 1950 durfte Deutschland wieder ein Fußballländerspiel austragen, gegen die Schweiz. An den Olympischen Spielen durfte man 1952 in Helsinki wieder teilnehmen.
Für die Zeit zwischen Gestern und Morgen wirkte der Name des deutschen Läufers wie ein trotziger Trost – ein Markenzeichen mit den Zahlen 1:46,6. Es dauerte bis 1955, bevor der Belgier Roger Moens den Rekord von Rudolf Harbig verbesserte. Auch er trat 1937 der NSDAP bei – in der Zeit gleich nach den Olympischen Spielen in Berlin hatte man das fast allen Spitzensportlern nahe gelegt. Harbig hatte eine Beschäftigung als Ableser von Gas-Uhren – er war ein 24-jähriger Gasmann, der sich sicherlich als Mitglied der Nazi-Partei einige Vorteile erhoffte.
Der Reporter Paul Laven, dem das Verdienst gebührt, den Sport als Erster in das seinerzeit modernste Medium, das Radio, gebracht zu haben, hat den Rekordlauf von Harbig mit dem damals nicht ungewöhnlichen Pathos jener Tage in einem Buch geschildert: „Meine Stimme hebt und senkt sich im Auf und Ab. Die Erregung des Kampfes, jede Wendung, jeder Eindruck färbt ihren Klang. Nun ist am Anfang der letzten, sich weit ins Blickfeld hinein schwingenden Kurve Harbig an den Italiener heran und dann an ihm vorbeigegangen. In die schillernde Stimme hinein bricht es von außen her wie ein dumpfes Stöhnen aus der dicht gedrängten Zuschauermasse. Der Deutsche scheint plötzlich Flügel an den Füßen zu haben, die ihn jeder Erdenschwere entheben. Vielleicht hoffen manche nach dem Schock der Enttäuschung ringsum, dass der bullige braun verbrannte Mann aus Como jetzt, da die Gerade sich zeigt, während der letzten mörderischen hundert Meter noch einmal im Gigantensprung an diesen maschinenhaft leicht laufenden, wie von einem rätselhaften Winde vorangetriebenen Deutschen herankomme. Ihn in einem Brust-an-Brust-Kampf niederringe, von dem die Alten schon berichten, dass er der Höhepunkt des hellenischen Olympia gewesen sei. Ich sehe dies gefasste, in sich gekehrte ruhige Gesicht Rudolf Harbigs, der ein wenig, als wenn er zum Volkstanz auf grüner Wiese anheben wollte, die Arme ausbreitet und durchs ringelnde Zielband gleitet, sehe den Stampfer aus Como, dessen Gesichtsfarbe gelb geworden ist und dessen angespannte Laufwut ihn immer noch an den Gegner heran zu treiben versucht, sehe die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen, greife das bleiche Gesicht Brandscheidts, des zweiten Deutschen, zu mir her, der dem Italiener gar nicht so fern ist. Der Beifall ist gewaltig. Wie von einem lähmenden Bande befreit, atmet die Brust der Menge fast hörbar dem Lautsprecher entgegen. Wieder spreche ich. Zahlen tanzen vor meinen Augen. Die Fünf und die Null von dem 1:50 sind in der schräg stehenden Sonne zerzaust und zerflattert. Und dann erschallt sachlich und doch mit spürbarem festlichem Triumph die italienische Stimme weit über die Arena von Mailand: ‚1:46,6 minuti – recordo del mondo!’“
Rekorde sind heute viel kurzlebiger geworden. Es ist müßig über die Gründe zu diskutieren. Das führt auch dazu, dass selbst die stärksten Liebhaber des Sports die Leistungen eher abgestumpft zur Kenntnis nehmen – Zahlen, hinter denen man die Menschen vergisst.
Rudolf Harbig war zur gleichen Zeit auch noch Inhaber der Weltrekorde über 400 Meter und über tausend Meter. Doch als Sternstunde der Leichtathletik gilt vor allem sein Lauf über achtmal hundert Meter am 15. Juli 1939 in Mailand. Er galt als Orientierung für ganze Läufergenerationen.
Als damals in Mailand die Zeit bekannt wurde, hielt die Welt des Sports den Atem an. Die Nachrichtenagenturen meldeten nicht die blanken Zahlen, die eventuell zu einem Missverständnis hätten führen können – sie meldeten ausgeschrieben eins-sechs-und-vierzig-sechs. Er besiegte dabei seinen Erzrivalen Mario Lanzi, der ihn vorher dreimal schlug.
Rudolf Harbig wurde kurz vor dem ersten Krieg geboren und starb kurz vor dem Ende des zweiten. Er erlernte nach der Schule den Beruf eines Tischlers und wurde dann Gasableser in seiner Heimstadt Dresden. Nein – ein Aufsteiger von heute auf Morgen war er sicherlich nicht. Seine Qualitäten als Läufer wurden wohl durch einen Zufall entdeckt. Er nahm an einem Wettbewerb teil, der unter dem Titel stand: „Der unbekannte Sportsmann.“ Er war schon über zwanzig Jahre alt, bevor er damit begann, so etwas wie ein geregeltes Training durchzuführen. Er kam dabei in die Hände des bekannten Trainers Woldemar Gerschler, von dem es heißt, er habe das Intervalltraining erfunden. Gerschler hatte wohl nie einen begabteren Schüler als Rudolf Harbig.
Der Deutsche Leichtathletik-Verband vergibt zum Abschluss seiner jährlichen Meisterschaften den Rudolf Harbig-Gedächtnispreis an einen Athleten, der eine besondere Leistung erzielte. Es ist vielleicht nicht die schlechteste Art, die Erinnerung an den größten deutschen Mittelstrecken-Läufer wach zu halten. Er war der bekannteste Soldat der deutschen Leichtathletik, der eingezogen wurde und an die Front kam. Niemand weiß genau, wo er gefallen ist. Rudolf Harbig starb als der unbekannte Soldat des deutschen Sports.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Rudolf Harbig:
Gerda Harbig: Unvergessener Rudolf Harbig. Berlin 1955
Erhard Mallek: Rudolf Harbig. Der Wunderläufer aus Dresden. Edition Sächsische Zeitung. Meißen, 2004