Leichtathletik
Leichtathletik
Der Sprung in die Geschichtsbücher: Ulrike Nasse-Meyfarth gewinnt 1972 mit Weltrekord (1,92 m) Olympia-Gold.
Mit 16 Jahren ist sie die jüngste Olympiasiegerin der Geschichte in einer Leichtathletik-Einzeldisziplin.
Nach ihrem überraschenden Erfolg durchlebt sie ein Leistungstief. 1976 scheitert sie bei den Olympischen Spielen in Montreal bereits in der Qualifikation.
1982 meldet sie sich mit ihrem ersten EM-Titel in der Weltspitze zurück. Dabei verbessert sie den Weltrekord auf 2,02 m.
„Und München leuchtet.“ Dieser Satz von Thomas Mann könnte über dem zauberhaften Abend des 4. September 1972 stehen, an dem die sechzehnjährige Ulrike Meyfarth sensationell Olympiasiegerin im Hochsprung wurde. Das Gesicht des Teenagers aus Wesseling bei Köln leuchtete ebenfalls, als sie mit der Weltrekordhöhe von 1,92 Meter ihre berühmten Konkurrentinnen übertraf. „Ich hatte das Gefühl, ich kann nichts falsch machen“, wird sie in der Rückschau sagen. Wenige Stunden danach überschattete das Geiseldrama im Olympischen Dorf ihren Triumph, so als wären die Götter neidisch auf sie gewesen. 39 Jahre später, im Mai 2011, wird Ulrike Nasse-Meyfarth in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist sie in den Annalen immer noch die jüngste Leichtathletin, die eine olympische Goldmedaille gewonnen hat. Und noch niemand hat ihr das Kunststück nachgemacht, zwölf Jahre später in Los Angeles zum zweiten Mal Olympiasiegerin zu werden.
Nach den Spielen von München begann für sie eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Im gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Uwe Prieser 1984 verfassten Buch „Nicht nur die Höhe verändert sich“ finden sich Sätze wie „Ich verfluche diesen Tag“ und „Ich hasse diese Höhe.“ Heute kann sie die emotionalen Aufwallungen abgeklärt einordnen: „Es gehört dazu, dass Leistungssportler ihre problematischen Zeiten haben, dass sie sich über Monate und Jahre durchbeißen müssen. Das macht einen zu einem gereiften Athleten.“ Nach dem Sensationssieg von München „waren wir alle überfordert, meine Eltern und ich, wenn die Journalisten und Kamerateams in unser Haus einfielen.“
Montreal 1976, wo sie in der Qualifikation ausschied, wurde für sie zum absoluten Tiefpunkt. Zuvor hatte sie sich von ihrem (inzwischen verstorbenen) ersten Trainer Günter Janietz im Streit getrennt. „Er hat den Olympiasieg nicht verarbeitet.“ Dabei hätte sie seine Hilfe gebraucht, dies selbst zu tun. Aus heutiger Sicht hätte sie sich damals bei sportlichen Rückschlägen gewünscht, dass er zu ihr sagt: „Mädchen, mach mal halblang. Das ist normal, dass es jetzt mit deinen Leistungen auch mal in den Keller geht.“ Stattdessen hat er ihr Vorwürfe gemacht wie: „1,80 Meter sind einer Olympiasiegerin nicht würdig.“ Ein (Grundschul-)Lehrer ohne pädagogisches Geschick.
Anders Gerd Osenberg, zu dem sie Ende 1977 vom ASV Köln nach Leverkusen wechselte. Der einfühlsame Erfolgstrainer von Heide Rosendahl, der Weitsprung- und (Sprint-)Staffel-Olympiasiegerin von München, von (Diskus-) Liesel Westermann und Rita Wilden, der Olympiazweiten von 1972 über 400 Meter, führte sie behutsam zu neuen Trainingsformen. Osenberg war kein Hochsprung-Spezialist. „Weil er mit mir lernte, lernte ich durch ihn. Mein Trainer wusste, wie ich denke.“
Schon im Sommer nach ihrem Wechsel kehrten die Erfolge für die 1,88 Meter große Athletin mit einer geradezu verblüffenden Zwangsläufigkeit zurück: Von 1979 an wurde sie fünfmal in Folge deutsche Meisterin. Selbst den Rückschlag des Olympiaboykotts der Moskauer Spiele 1980 steckte sie erstaunlich gut weg. 1982 folgte ihr erster Zwei-Meter-Sprung und kurz danach in Athen mit dem Weltrekord von 2,02 Meter der Europameistertitel. 1983 wurde sie in Helsinki hinter der Sowjetrussin Tamara Bykowa WM-Zweite, und wenig später sprang sie in London mit 2,03 Meter wieder Weltrekord. Und das alles gelang ihr neben dem Studium an der Deutschen Sporthochschule.
In Los Angeles 1984 dann das kaum glaubliche olympische Comeback. „Dieser zweite Olympiasieg (2,02 Meter, olympischer Rekord) ist nach zwölf Jahren der Höhen und Tiefen die größere Leistung. Der Wettkampf lief ab wie am Schnürchen, und alles gelang im ersten Versuch.“ Nach mancher Häme in der Zeit ihres Leistungstiefs leerte sich das Füllhorn der Anerkennung reichlich über ihr: von 1981 an viermal in Folge Sportlerin des Jahres, Verdienstorden Nordrhein-Westfalens, Bambi, Goldene Kamera, Welt-Jahrhundert-Hochspringerin, Umbenennung des Stadions von Wesseling in „Ulrike-Meyfarth-Stadion“ und manches mehr.
„Verglichen mit Los Angeles war München das emotional tiefer greifende Erlebnis, für alle im Stadion und die Millionen an den Bildschirmen. Man muss ein paar Jahre ins Land gehen lassen, um einschätzen zu können, was man da ausgelöst hat. So ein Erlebnis, dass 80.000 Menschen im Stadion hinter einem stehen, das kriegt man nur einmal im Leben, wenn überhaupt…“ Für die Deutschen war es wohl der olympische Moment, der sie am meisten bewegt hat.
Heute ist die Diplom-Sportlehrerin beim TSV Bayer 04 Leverkusen für Talentsichtung zuständig: „Ich bereite zum Beispiel Schulsportfeste und Stadtmeisterschaften vor, besuche weiterführende Schulen und biete dort Schnuppertraining an. Ich betreue das Projekt KIS, Klassen im Sport. Bewegungsbegabte Schüler laden wir zum Probetraining ein.“ Ulrike Nasse-Meyfarth mischt im Kuratorium der Sportstiftung NRW mit, die über eine Kapitaleinlage von 5,3 Millionen Euro verfügt. Sie berichtet mit Freude über die Fortschritte: „Die Stiftung hat in den letzten zehn Jahren die Trainerstellen im Land von 40 auf 140 aufgestockt.“ Große Unternehmen sollen jungen Talenten unterhalb der Ebene Sporthilfe Praktika anbieten. Sie hat ein Netzwerk ehemaliger Athleten aufgebaut, die ebenfalls helfen sollen, die Tür zu Ausbildungsplätzen zu öffnen. Athleten will sie nicht selbst trainieren: „Das wollte ich mir nicht antun. Denn dann ist man von früh bis spät und oft auch an den Wochenenden unterwegs. Wenn man Familie hat und einen Mann, der selbständig ist, wird das kompliziert.“ Und noch einen Grund führt sie an: „Ich werde ungeduldig, wenn das mit der Einstellung nicht so läuft wie früher bei mir.“
Anders als in ihren frühen Jahren sind ihr heute öffentliche Auftritte nicht mehr lästig. Sie war Botschafterin der Münchner Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2018. Gern setzt sie sich für die Belange der Sporthilfe ein, der sie sich als ehemalige Spitzensportlerin zu Dank verpflichtet fühlt. Vielfältig ist ihr soziales Engagement von der José-Carreras-Leukämie-Stiftung bis hin zur (Rad-)Tour der Hoffnung (früher Tour Peiper) für an Leukämie erkrankte Kinder, deren Schirmherrin sie einige Jahre lang war. Und das alles ist nur ein kleiner Auszug aus der Liste ihrer Funktionen und Tätigkeiten.
Gern zieht sich Ulrike Nasse-Meyfarth in ihr Domizil nach Voiswinkel zurück, einem Dorf nahe Leverkusen, das zur Großgemeinde Odenthal im Bergischen Land gehört. In ihrem privaten Umfeld ist sie Frau Nasse. Den Zusatz Meyfarth hängt sie nur an, wenn sie im Sport unterwegs ist. Der Name ihres Mannes Roland, eines Rechtsanwalts und ehemaligen Handballspielers des OSC Rheinhausen, hat ihre beiden Töchter Alexandra und Antonia ein wenig vor dem Schatten der berühmten Mutter geschützt.
Die Tochter eines Maschinenbau-Ingenieurs ist in Wesseling, einem von der Petrochemie geprägten Industriestädtchen südlich von Köln, aufgewachsen. „Wir hatten unsere Freiheit, haben viel draußen gespielt.“ Elvira Possekel, später deutsche Meisterin im Sprint und Staffel-Olympia-Zweite von Montreal 1976, nahm die zwölfjährige Ulrike mit zum TV Wesseling. Günter Janietz fiel das Talent des lang aufgeschossenen Mädchens für Hochsprung auf. Inspiriert durch den Olympiasieg von Dick Fosbury in Mexiko 1968, dem Erfinder des Rückwärtssprungs, ging es im Flop steil aufwärts. „Am Anfang gab’s noch keine Matte. Bei manchen Wettkämpfen lag nur Sand rum. Wenn man nicht auf dem Rücken landen wollte, war der Scherenstil angesagt. Und der ist ja auch heute immer noch gut als Vorübung für den Flop.“ Als 14-Jährige übertraf sie mit 1,68 Meter den deutschen Rekord für Schülerinnen. Mit 15 wurde sie Zweite der deutschen Meisterschaft und durfte 1971 bei der EM in Helsinki starten. Dort scheiterte sie in der Qualifikation. 1972 schlüpfte sie als Dritte der deutschen Titelkämpfe hinter Renate Gärtner und Ellen Mundinger gerade noch ins Olympiateam. Ein Gedanke an eine Olympiamedaille in München, geschweige denn an Gold, hätte jeder für abwegig gehalten.
Steffen Haffner, Mai 2011
Literatur zu Ulrike Nasse-Meyfarth:
Ulrike Meyfarth, Uwe Prieser: Nicht nur die Höhe verändert sich. Von Olympia zu Olympia. Zwölf Jahre Einsamkeit. Düsseldorf 1984