Willi Holdorf

Leichtathletik

  • Name Willi Holdorf
  • Sportart Leichtathletik
  • Geboren am 17. Februar 1940 in Blomesche Wildnis
  • Todestag 05. Juli 2020 in Achterwehr bei Kiel
  • Aufnahme Hall of Fame 2011
  • Rubrik 60er Jahre

Erster deutscher König der Athleten

Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio gelang Willi Holdorf im Zehnkampf der große Coup: In einem mitreißenden Finale gegen den Sowjetrussen Rein Aun holte er als erster Deutscher den Olympiasieg in der „Königsdisziplin“ der Leichtathletik. Im abschließenden 1500-Meter-Lauf durfte Holdorf maximal 18 Sekunden auf den Rivalen verlieren. Als er zwölf Sekunden nach Aun mit der Devise „Gold oder Kollaps“ die Ziellinie überquerte, brach er entkräftet zusammen. Sein größter Erfolg war gleichzeitig sein letzter Zehnkampf.

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Vorher war der für den TSV Bayer 04 Leverkusen startende Athlet 1961 und 1963 Deutscher Meister und 1962 EM-Fünfter im Zehnkampf geworden. Vor seiner Leichtathletikkarriere war Holdorf als Fuß- und Handballer aktiv. Vielseitigkeit bewies er auch später: Holdorf führte den Stabhochspringer Claus Schiprowski 1968 zu Olympia-Silber und arbeitete 1974 kurzzeitig als Trainer des Fußball-Bundesligisten Fortuna Köln. Im Zweierbob wurde er 1973 als Anschieber von Horst Floth EM-Zweiter und WM-Vierter. Bis 2006 gehörte Holdorf fast zehn Jahre lang als Persönliches Mitglied dem Nationalen Olympischen Komitee an.

Willi Holdorf

Leichtathletik

Größte Erfolge

  • Olympia-Gold 1964 im Zehnkampf
  • Deutscher Meister 1961 und 1963 im Zehnkampf
  • 15 deutsche Einzel- und Mannschaftsmeistertitel in verschiedenen Disziplinen

Auszeichnungen

  • Sportler des Jahres (1964)
  • Sechster bei der Wahl zum Weltsportler des Jahres (1964)
  • Silbernes Lorbeerblatt (1964)
  • Goldenes Band der Sportpresse (1964)

Biografie

Willi Holdorf, der Zehnkämpfer, trug bei den Olympischen Spielen in Tokio 1964 die gleiche Startnummer 263 wie vier Jahre vorher Armin Hary. Der Saarländer hatte das olympische Gold über 100 Meter gewonnen, und beide besaßen in Bert Sumser den gleichen Heimtrainer. Wer wollte, konnte darin ein gutes Omen sehen. Und wirklich, auch Holdorf gewann. Im Schlussakt dauerte es auf der Zielgeraden des abschließenden 1500-Meter-Laufs nur zwölf Sekunden, in denen er sein Drama mit einem Happy End vollendete. Der Este Rein Aun hatte ihm alles abverlangt.

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Am ersten Wettkampftag, es war der 19. Oktober, hemmte ein böiger Wind die Athleten, und der zweite Tag begann um neun Uhr bei nur 13 Grad mit einem leichten Schnürlregen. Wenn der große Tag ansteht, muss man das Wetter halt nehmen, wie es kommt.

Er „wankte mit weichen Knien, erschöpft und bis zum Letzten gefordert, müde und ausgepumpt und doch nur von dem Willen besessen, durchzuhalten und das so greifbar nahe Gold nicht mehr aus den Händen zu geben, dem 1500-Meter-Ziel entgegen und brach unmittelbar hinter der rettenden Linie zusammen.“ Der Leichtathletik-Fachjournalist Ekkehard zur Megede aus Berlin wurde mitten unter den 30.000 Zuschauern im Meiji-Stadion der Zeitzeuge eines Laufs, von dessen Schlussakkord der Hauptdarsteller später sagte: „Mir wurde schwarz vor Augen“. Er kriegte gar nicht mehr richtig mit, dass sein Spurt schließlich auf den letzten vier Schritten in einer Schlangenlinie endete.

Holdorfs „Unternehmen Gold“ stand während der zwei Wettkampftage, die ein Zehnkampf dauert, ein paar Mal auf wackligen Beinen. Der späteren Gewinner der Bronzemedaille, Hans-Joachim Walde aus Mainz, warf in seinem besten Versuch den Diskus auf 48 Meter hinaus, und als das unerfahrene japanische Kampfgericht den Versuch für ungültig erklärte, erntete es nur ein allgemeines Kopfschütteln. Das Resultat war, dass dadurch Walde gegenüber seinen schon vorgelegten 43,15 Metern genau hundert Punkte verlor. Am Ende lag Holdorf 78 Punkte vor seinem Mannschaftskollegen. Glück gehabt.

Ein anderes Schlüsselerlebnis stellte sich beim Stabhochsprung ein. Holdorf hatte sich für diese achte Station mutig die Höhe von 4,40 Meter vorgenommen. Hausrekord. Aber plötzlich stand er bei 4,10 Meter im dritten und letzten Versuch vor dem Alles oder Nichts. Noch 45 Jahre später vermochte er jene Szene aus seinem Gedächtnis abzurufen: „Ich wusste genau, wenn du da nicht drüber kommst, ist es mit der Medaille vorbei.“ Er stand mit dem Rücken zur Wand, es klappte und er schaffte auch noch 4,20 Meter. Danach konnte er weiter an seiner Konzentrationskette werkeln.

Der Zehnkampf verlangt, während des Wettkampfes nur von Minute zu Minute zu denken. Es zählt einzig das Kurzzeitgedächtnis. Wenn der Athlet durch sein Hochgebirge jenseits der Siebentausender kraxelt, darf er sich ein Nachdenken nicht erlauben. Und schon gar nicht Nachdenklichkeit. In Tokio hangelte Willi Holdorf sich während zwei achtstündigen Wettkämpftagen an seinen Handlungssträngen entlang. Konzentriert und gelöst. Beides in Einklang zu bringen, ist eine hohe Kunst.

Im abschließenden 1500-Meter-Lauf kam es zum Schwur. Das Alles oder Nichts wird hier auf die Spitze getrieben. Und Holdorf tauchte in sein ureigenes Element ein. Da erlaubte er sich weder Zittern noch Zagen. Heimtrainer Sumser wusste schon immer: „Was Willi tat, tat er ganz. Halbe Sachen machte er nicht.“ Werner von Moltke, der später in Budapest 1966 Europameister wurde, meinte: „Knüppeln konnte Willi immer“. Knüppeln ist ein anderes Wort für „beißen“. Kämpfen. Durch die Wand gehen. Der Boulevard überhöht den Mittelstreckenlauf der Zehnkämpfer gern mit dem Bild vom „Marathon der Zehnkämpfer“.

Als die Athleten an der Startlinie standen, wies ihr deutscher Spitzenreiter eine Bestzeit von 4:48,8 Minuten auf, und sein erster Gegenspieler Aun hatte 4:17,3 vorgelegt. Sie lagen also 21,5 Sekunden auseinander. Wollte Holdorf Olympiasieger werden, durfte er – bei einem aktuellen Zwischenstand von 7326 zu 7199 Punkten – jedoch höchstens 18 Sekunden zurückliegen. Es empfahl sich sehr, eine persönliche Bestzeit aufzustellen. Wenn es nach der sogenannten Papierform gegangen wäre, hätte Holdorf also Silber gewonnen. Doch er dachte so einfach, wie er es draußen auf der Aschenbahn gelernt hatte: „Ich muss ein bisschen schneller laufen und er ein bisschen langsamer.“

In solch einer Ausnahmesituation, kurz vor der dem Startschuss zur Tour der Leiden, denkt der Athlet nur noch in Ausrufezeichen. Schließlich blieb bei Holdorf ein Gedanke übrig. „Ich dachte an meinen kleinen Sohn zu Hause. Der sollte später nicht einmal sagen: ‚Mein Vater hätte Olympiasieger werden können. Aber er war zu schlapp dazu’“, vertraute er einmal dem Leichtathletik-Journalisten Gustav Schwenk an. So wurde der Lauf auch ein Beutezug zugunsten der eigenen Brut.

Holdorf wusste schon, dass ihm das Gold sicher war, als weniger als hundert Meter vor ihm Aun gerade über die Ziellinie lief. Den tatsächlichen Rückstand von zwölf Sekunden hatte er natürlich sehr gut einzuschätzen vermocht. Es wurden dann 4:22,3 gegenüber 4:34,3. „Ich hätte zum Schluss nicht nach rechts, sondern nach links fallen sollen. Dann wäre ich nämlich auf den Rasen gefallen. Das hätte nicht so wehgetan wie der Sturz auf die harte Aschenbahn.“ Mit dem Ergebnis von 7887 Punkten hatte er einen komfortablen Vorsprung von 45 Zählern vor Aun herausgekämpft und 79 vor Walde. Der Landsmann Horst Beyer wurde Sechster. Mit dem Gold trat Holdorf für immer von dieser Bühne ab. Er war zwar erst 24, aber er wusste, dass Besseres nicht mehr nachkommen würde.

Der beste Zehnkämpfer erhielt schon früh den Ehrentitel „König der Athleten“. Das führt zurück auf den amerikanischen Indianer Jim Thorpe, den Olympiasieger im Fünf- und Zehnkampf von Stockholm 1912. Ihn begrüßte der schwedische König Gustaf V. mit den Worten: „Sir, Sie sind der größte Athlet der Welt“. In diese Tradition reihte sich 52 Jahre später Holdorf ein. In den Gotha der Sports.

Geboren wurde Willi Holdorf in dem Flecken Blomesche Wildnis bei Glückstadt in Schleswig Holstein. Der Norddeutsche Rundfunk zeichnete die sportlichen Anfänge Holdorfs einmal nach. „Leichtathlet war er geworden, weil ein Arbeitskollege eine Bezirksmeisterschaft ausrichtete. ‚Da laufe ich mit’, meinte der damals 17-Jährige aus einer Laune heraus. Als Steppke war er zuvor dem Fußball nachgejagt, als Schüler stand er im Handball-Tor. Mit 19 war er deutscher Jugendmeister im Zehnkampf.“ In jene Zeit fiel auch seine Lehre als Starkstromelektriker. Beim Nennen seiner Ausbildung kommt in den Sinn, dass er zielsicher den richtigen Beruf gewählt hatte. Immer unter Strom, irgendwie.

Der deutsche Zehnkampf erlebte in den 1950er und 1960er Jahren eine große Blütezeit, und das lag besonders an Friedel Schirmer, dem Olympiaachten von Helsinki 1952. Als Bundestrainer organisierte er die Methodik, er hatte revolutionäre Ideen und beherrschte besonders die Kunst der Motivation. Man sprach von der deutschen Zehnkampf-Schule. Es hieß, bei einem Länderkampf mit je sechs Teilnehmern hätten die Deutschen aus der Bundesrepublik sogar die Mannschaften der USA und der Sowjetunion besiegen können. Allein bei den bundesdeutschen Zehnkampf-Meisterschaften 1964 in Karlsruhe traten 82 Teilnehmer an.

Es zeigte sich, dass es hierzulande einen vielseitigeren Leichtathleten als Holdorf noch nie gegeben hatte. Ob als Sportler oder als Trainer. Er war ein Läufertyp, und folgerichtig gewann er, der mit 1,82 Meter und 90 Kilo in seinem Metier einer der Kleinsten war, die deutschen Titel über 200 Meter Hürden und über 400 Meter in der Halle. Außerdem wurde er Meisterschaftszweiter über 60 Meter.

Mit seinem Olympiasieg wurde Holdorf auch deutscher Sportler des Jahres. Danach absolvierte er sein Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Als Trainer für Bayer Leverkusen führte er nur vier Jahre nach Tokio seinen Schützling Klaus Schiprowski in Mexiko-Stadt 1968 zu Olympia-Silber im Stabhochsprung. Zudem brachte er den 110-Meter-Hürdenläufer Günter Nickel in die Weltklasse. Als Bundestrainer übernahm er eine Zeitlang die deutsche Sprinterstaffel.

Danach begann er, über den Tellerrand hinauszublicken. Unter Davis-Cup-Kapitän Wilhelm Bungert besorgte er die Kondition der deutschen Tennis-Asse. Auf Anraten von Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger machte Holdorf den Schein zum Fußball-Lehrer und arbeitete 1974 für kurze Zeit beim Bundesligisten Fortuna Köln. Zwischendurch setzte er sich als Anschieber in einen Zweier-Bob und wurde mit Horst Floth als Pilot Europameisterschafts-Zweiter. Seine Beständigkeit im Berufsleben fand er 1976 als Repräsentant einer großen Sportartikelfirma.

„Vom Naturell her bin ich ein bisschen faul; aber wenn ich merke, dass etwas zum Erfolg führt, entwickele ich viel Ehrgeiz.“ Holdorf meinte besser: sehr viel Ehrgeiz. Er kniete sich in jede Arbeit. Vor dem finanziellen Ertrag stand die Herausforderung. So ist er gestrickt. Für Holdorf war ein Glas immer halbvoll, nie halbleer.

Die Olympischen Spiele auf dem Bildschirm sah in dem Städtchen Großheubach am Main auch der elfjährige Guido Kratschmer. Als Holdorf durchs Ziel wankte und Gold gewann, stand sein Entschluss fest, auch ein Zehnkämpfer zu werden. Er wurde einer, in Montreal 1976 holte er olympisches Silber, und als Moskau 1980 anstand, war er dann, der aktuelle Weltrekordler, der große Favorit. Doch dann durfte er nicht starten. Der Grund: der Olympiaboykott der bundesdeutschen Mannschaft wegen des Einmarsches der sowjetischen Kriegs-Truppen in Afghanistan.

Unendliches Pech gehabt. Die Waage kann sich nach beiden Seiten neigen. Mit Holdorf meinte es das olympische Schicksal gut. Heute ist er eine Legende.

Robert Hartmann, Mai 2011

Literatur zu Willi Holdorf:

Karl Seeger: Willi Holdorf – König der Athleten. Offenbach, 1965

Knut Teske: Da steht die Welt still - Willi Holdorfs historischer Olympiasieg von Tokio 1964. Hildesheim, 2014


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