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Leichtathletik
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Gerührt und freudig lächelnd halten Marianne Buggenhagen und die ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesene Schülerin das neue Namensschild der "Marianne-Buggenhagen-Schule" in die Kamera. Die Sonderschule für körperbehinderte Kinder in Darlingerode trägt seit dem 25. Oktober 2002 den Namen der ehemaligen Para-Leichtathletin (Foto: picture alliance).
Nur einer der vielen Erfolge in der Karriere von Marianne Buggenhagen: Das Dokument belegt den Rekord im Kugelstoßen, den sie im Jahr 2000 in ihrer Klasse F55 aufgestellt hat. Neben diesem hält sie zwei weitere Weltrekorde, die bis Ende 2021 noch galten (Foto: picture alliance).
62 Medaillen symbolisieren die gewaltigen Erfolge der Athletin aus Ueckermünde, darunter unter anderem 14 Paralympics-Medaillen, 23 Weltmeisterschaftstitel und 8 Europameisterschaftstitel (Foto: picture alliance).
2016 wird Marianne Buggenhagen als eine der Berliner Sportler:innen des Jahres mit dem silbernen Bären für den zweiten Platz bei der "Champions Gala" geehrt (Foto: picture alliance).
Für ihre Erfolge bei den Paralympischen Spielen in London erhält die ehemalige Para-Athletin 2012 das Silberne Lorbeerblatt, welches ihr bereits in den Jahren zuvor mehrmals verliehen wurde (Foto: picture alliance).
Marianne und Jörg Buggenhagen bei der Benefiz-Gala "Die Nacht der Stars - ein Festabend des Behindertensports" 2009. Die beiden lernten sich in den 70er Jahren kennen, als die ausgebildete Krankenschwester und Therapeutin ihn nach einem schweren Motorradunfall betreute. 1978 heirateten sie (Foto: picture alliance).
„Behindert ist man nicht, behindert wird man gemacht“ - so einer der Kernsätze von Marianne Buggenhagen. Sie setzt sich für Inklusion und Integration ein und versucht, die Menschen für diese Themen zu sensibilisieren. So auch zum Beispiel beim Eröffnungstag des Rollstuhlparkours in Brandenburg, wo sie unter anderem Menschen, die nicht auf einen Rollstuhl angewiesen sind, durch den Parkour verhilft und sie so auf die alltäglichen Probleme und Hürden aufmerksam macht (Foto: picture alliance).
Dass es im Gesamtbild des Sports trotz der gern und intensiv beschworenen Integration und Inklusion auch in der Gegenwart nach wie vor erhebliche Defizite des Behindertensports im Vergleich mit dem der Nichtbehinderten, der „Fußgänger“ (wie die Handicap-Athleten in markanter Verkürzung oft sagen) gibt, wird Marianne Buggenhagen sofort unterschreiben. Die am 26. Mai 1953 in Ueckermünde in der ehemaligen DDR geborene lebenslustige Frau mit der Kurzhaar-Bürstenfrisur kann sich ein entsprechendes Urteil erlauben. Ihre Erfahrungswerte dazu sind so intensiv, markant, umfangreich, ja auch konträr, wie sie kaum jemand anderes aus dem Metier haben kann.
Seit 1976 sitzt sie nach einer zwei Jahre zuvor manifest gewordenen aufsteigenden Querschnittslähmung mit zunächst harmlos scheinendem Bandscheibenvorfall im Rollstuhl – „inkomplett querschnittsgelähmt" ab Hüfte, so die Fachdiagnose. Ihre tatsächliche körperliche „Länge“ von 1,90 m ist für den „Normalverbraucher“ in der Regel nur zu erahnen, da er stehend „von oben herab“ mit der sitzenden Person ihm gegenüber kommuniziert.
Mariannes sportlicher Weg begann 1969 als Nichtbehinderte, als sie aus ihrem mecklenburgischen Heimatort zum SC Dynamo nach Berlin „delegiert“ wurde, wo sie ein, ob ihrer Größe eher vermutetes, denn tatsächlich vorhandenes Volleyball-Talent entwickeln sollte. Über die dritte Mannschaft kam sie schließlich leistungsmäßig aber nicht hinaus. In der parallelen Berufsausbildung zur Krankenschwester erlitt sie den Bandscheibenvorfall, der alles, sprich ihr ganzes Leben komplett verändert. In ihrer 1996 erschienenen Autobiographie, in der die auseinanderdriftende Körper- und Geistes-Realität mit dem Titel „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt“ treffend beschrieben ist, kann man in ihren, keine Details auslassenden Beschreibungen von Ereignissen, Erlebnissen und Gefühlen nachlesen, was dies mit den betroffenen Menschen „macht“. Für „ahnungslose“ Nichtbehinderte bedeuten die Lektüre, erst recht aber Live-Gespräche mit Marianne Buggenhagen Lektionen fürs eigene Leben und Befinden: Lektionen in Mut, in Wiederaufstehen aus Verzweiflung, die bis zum (Gottseidank) gescheitertem Suizidversuch führte, in Durchsetzungskraft, in Selbstwertgefühl, in „Leben lernen“.
1977, als sie nach all dem Leiden an Körper und Seele realisiert hatte, dass der Rollstuhl für sie keine Strafe, sondern eine Befreiung war, hat sie in der DDR mit dem Behindertensport begonnen, nachdem sie eine Gruppe Rollstuhlbasketballer beim Training und deren Beweglichkeit erlebt hatte. Sie schämte sich quasi für die eigene Körperstarrheit und dass sie „wie eine Ente“ im Rolli saß. Und begann nun, wirklich Sport zu treiben – regelmäßig, hartnäckig, immer intensiver, irgendwann auch unter Anleitung versierter Trainer. Der Rollstuhl hieß für sie Bewegung, eine andere zwar als die bei den Nichtbehinderten, aber eine, die Entdeckung, Ausloten der eigenen Möglichkeiten, Erfüllung und Herausforderung bedeutete. „Ohne den Sport wäre ich im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden“, sagte sie später im Rückblick.
Die Erfolge stellten sich schnell ein – freilich sind Vergleiche zur Gegenwart unangebracht, denn Behindertensport (in der DDR noch unter dem Wortungetüm „Versehrtensport“ geführt) hatte zu Beginn ihrer Laufbahn keine Öffentlichkeit, wurde kaum auf Leistungsebene betrieben, sondern unter der Mitleidsattitüde nur als Rehabilitation und Gesundheitsprophylaxe eingeordnet. In der DDR kamen das vorsintflutliche Knowhow (v.a. bei Rollstühlen) und wenige Wettkampfmöglichkeiten (international nur mit „Bruderländern“) hinzu. Marianne hatte zwar schon in den 80ern das Potenzial für große Leistungen, konnte es aber angesichts der DDR-Abstinenz im internationalen Vergleich nicht einsetzen. Dennoch gab es auch damals für ambitionierte Athleten, wie Marianne Buggenhagen es war, die Chance sich einzubringen und zu beweisen, dass man auch als „kleine Kaputte“, wie sie sich selbstkarikierend immer gern nannte, etwas wert ist. Sie versuchte sich in allen möglichen Disziplinen – Leichtathletik, Schwimmen (von unwissenden Laien gab es sogar mal die Frage „Rostet da nicht der Rollstuhl?“), Basketball (nach der Wende u.a. EM-Silber und WM-Teilnahme), Tischtennis. Die nationalen Meistertitel, zunächst in der DDR und dann in der Bundesrepublik, türmten sich geradezu. Zu einer punkt- und zahlgenauen Statistik bis zum Karriereabschied nach den Rio-Paralympics 2016 ist selbst die längst als „Grande Dame“ oder „Ikone des Behindertensports“ apostrophierte Ausnahmeathletin nicht imstande. „Es dürften alles in allem aber über 180 und in meinen beiden deutschen Vater- bzw. Mutterländern zusammen insgesamt über 200 sein“, sagt sie.
Leichter ist das Zählen bei den internationalen Meriten. Die ersten gab es im August 1990 bei der WM in Assen (Niederlande), als sie für die kurz vor ihrem politischen Ableben erst- und letztmals bei solchen Anlässen präsente DDR dreimal Gold und einmal Silber gewann. Ein später Start, denn da war Marianne Buggenhagen bereits 37 Jahre alt. Die meisten Athleten sind in diesem Alter längst im Ruhestand, für die in Bernau bei Berlin lebende, laut WELT-Charakteristik „Unverwüstliche“, war es erst der Anfang. 1992 in Barcelona erlebte sie die ersten von sieben Paralympics, bei denen sie bis Rio 2016 neun Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen gewann und zur erfolgreichsten deutschen Paralympics-Starterin wurde. 23 Jahre – auch dies ein „Rekord“ – wurde sie von der Deutschen Sporthilfe gefördert, wofür Leistungen und Erfolge die erste Prämisse sind. Bereits verkündete Karriereenden verschob sie wegen einer „ungestillten Lust an Wettbewerb und Leistung, am Ausloten der eigenen Grenzen und immer neuen Selbsterfahrungen“. Mit Diskus-Silber in Rio 2016 – ihre 24,56 Meter wurden nur von der 36 Jahre jüngeren Chinesin Feixia Dong um 47 cm überboten – sagte sie am Samstag, dem 17. September 2016, einer Szene Valet, die sie ein Vierteljahrhundert mitbestimmt hatte. Es war ihr definitiv letzter Wettkampf, danach nahm sie weder Diskus, Kugel oder den eher ungeliebten Speer nochmal in die Hand. Die drei Weltrekorde in ihrer Startklasse F55 (Kugel, Diskus, Fünfkampf), die sie beim Laufbahnende innehatte, bestanden auch Ende 2021 noch. „Das tut nicht nur meinem Ehrgeiz, sondern auch dem Selbstwertgefühl gut“, sagt sie lachend.
„Ich habe eine erfüllte Sportkarriere hinter mir, meine Leistungsgrenze erreicht, mich mit einer Superweite verabschiedet, mit der ich stolz und zufrieden nach Hause fahren konnte“, kommentierte sie nach Rio. Berlins Bürgermeister Michael Müller schrieb in seiner Gratulation zur Medaille: „Diese bemerkenswerte Frau hat ein Leben für den Sport gelebt und sich niemals von Rückschlägen unterkriegen lassen. Für viele Menschen nicht nur im Sport ist sie deshalb ein großes Vorbild.“ Zu den 14 Paralympics-Plaketten kommen laut „Hausstatistiker“ Jörg Buggenhagen akribisch geführter Laufbahn-Chronologie zwischen 1990 und 2016 23 WM- und acht EM-Titel – summa summarum ergibt sich eine 40-12-10-Podestbilanz bei internationalen Championaten. 40 Titel, 62 Medaillen – ein sportlicher Superlativ! Dennoch, angesichts ihrer zurückhaltend-bescheidenen Selbstcharakteristik als „kleine Kaputte“ tut sich Marianne schwer damit, im Mittelpunkt zu stehen und herumgezeigt zu werden. Gleichwohl sind die vielen Ehrungen ihres Lebens Ausdruck für den großen Respekt und die Wertschätzung, die sie sich nicht nur im Sport erworben hat.
1994 wurde sie in der ARD-Publikumswahl als erste Athletin mit einer Behinderung zu Deutschlands „Sportlerin des Jahres“ gekürt, vor Franziska van Almsick und Steffi Graf. Mehrfach hat sie das „Silberne Lorbeerblatt“ des Bundespräsidenten erhalten, 2010 den Verdienstorden der Bundesrepublik, 2018 das Bundesverdienstkreuz. Eine unvollständige Aufzählung, die um diverse weitere Ehrungen, wie zum Beispiel den 1995 von Al Gore in Los Angeles überreichten Noel Foundation Award oder den 1993 in New York empfangenen „Victory Award“ zu ergänzen wäre. Bei der Ende 2020 vollzogenen Berliner Sportlerwahl „Die Besten der Besten“ aus 41 Jahren metropoler Sportgeschichte (je 50% Publikums- und Experte-Wahl) belegte Marianne Buggenhagen Platz 3 hinter Franziska van Almsick und Claudia Pechstein. Seit Beginn ihres – so O-Ton Marianne Buggenhagen – „bewussten Lebens“, hat sie nach der Devise gelebt, sich einzubringen, nicht nur passiv zuzusehen, wie sich Dinge vollziehen, sondern etwas zu bewegen und zu entwickeln.
Schon als sie erste Erfolge erreichte, wollte sie diese nicht egomanisch für sich „ausbeuten“, sondern ihre Popularität gesellschaftlich und politisch nutzen. Oft ist ihr das gelungen. Dass sie es nicht immer schaffte, ärgert sie unüberhörbar, wenn man es anspricht. Immer noch gibt es ihrer Ansicht nach viele Probleme in Sachen Inklusion und Integration, technologische und architektonische Hürden und Hemmnisse im Alltag, viele Fragen, bei denen eben nur verbal, aber nicht wirklich auf der vielbeschworenen Augenhöhe agiert wird. „Behindert ist man nicht, behindert wird man gemacht“, lautet einer ihrer Kernsätze. Marianne Buggenhagen benennt Probleme, wenn sie darauf angesprochen wird – nicht verbissen, sondern immer als kommunikatives Verständigungs- und Hilfsangebot. Sie versteckt sich nicht hinter pseudodiplomatischen Ausreden. Damit tun sich manche Zeitgenossen schwer.
Eine besondere Bedeutung hat für sie natürlich nach wie vor der Umgang mit „ihresgleichen“. Als Krankenschwester und Therapeutin mit jahrelanger Erfahrung konnte sie durch ihren persönlichen Status zeigen, „dass ich einer von ihnen bin, auch mit einem Handicap lebe“. So hat sie es auch mit ihrem Ehemann Jörg gehandhabt, der nach einem schweren Motorradunfall Anfang der 70er noch schwerer behindert ist als sie selbst, ihr Patient wurde und seit 1978 ihr Ehemann. Die beiden führen in ihrem Haus in Bernau eine wunderbare Liebes-, Fürsorge- und Einfühlungsgemeinschaft, die wärmt, wenn man sie als Gast erlebt. Jörg hat Marianne in ihren aktiven Jahren im Hintergrund organisatorisch stets den Rücken freigehalten. Zwei Schulen hierzulande tragen den Namen von Marianne Buggenhagen. Eine in Darlingerode im Harz, eine in Berlin-Buch, wo sie lange gelebt und gearbeitet hat. Sie ist Ehrenbürgerin ihres Geburtsortes Ueckermünde. Doch all dieser Ehrungen bedarf es nicht, um mit Ereignissen, Erfolgen, Erfahrungen zu belegen: Aus der „kleinen Kaputten“ ist eine „ganz Große“ geworden!
Aufs Alten- oder Ruheteil hat sich Marianne Buggenhagen nicht zurückgezogen. Dazu steckt zu viel Abenteuer- und Entdeckerlust sowie Neugier in ihr. „Wenn ich mir jetzt eine karierte Decke über den Schoß legen und nichts machen würde, ich glaube, dann wäre ich behindert“, hat sie nach dem Aktiven-Abschied vom Sport gesagt. Ein typisches Buggenhagen-Zitat. In Bernau hat sie bei der SG Schwanebeck 98 e.V. eine Selbsthilfegruppe aus dem Bereich Special Olympics (geistig Behinderte) übernommen, hat viel Zeit investiert, um ein Netzwerk zu schaffen und Partner zu gewinnen. Sie hat ihre Popularität eingebracht, „um etwas Gutes zu bewegen“, um den rund 15 betreuten Schützlingen zu zeigen, dass Sport ein wirksames Mittel ist, um körperlich wie seelisch positive Dinge – jeder nach seinen Möglichkeiten – zu erreichen. Eine Behinderung bedeutet nicht das Ende des Lebens, sondern stets auch einen neuen Anfang.
Klaus Weise / Oktober 2021
Literatur zu Marianne Buggenhagen:
Marianne Buggenhagen: Paralympics 2000, Sportverlag 2000.
Marianne Buggenhagen: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt. Die Autobiographie, Sportverlag 2001.
Marianne Buggenhagen: Schweres Schicksal? Leichtathletin!. Autobiografie, Neues Leben 2010.