Leichtathletik
Leichtathletik
Bereits zwischen 1966 und 1971 macht Heide Ecker-Rosendahl als erfolgreiche Mehrkämpferin (u.a. Europameisterin 1971) und Weltrekord-Halterin im Weitsprung auf sich aufmerksam.
Im Weitsprung holt sie am sechsten Tag der Spiele die erste Goldmedaille für die westdeutsche Mannschaft. Bereits zwei Tage später folgt Silber im Fünfkampf.
Der krönende Abschluss mit der Staffel: Überraschend bringt Ecker-Rosendahl die westdeutsche Mannschaft in Weltrekordzeit ins Ziel.
Nichts fällt leichter, als den Tag zu bestimmen, an dem Heide Rosendahl damit begann, eine deutsche Sport-Legende zu werden. Es dauerte nicht lange, nur zehn Tage. Es begann am 31. August 1972, und der Ort war das Olympiastadion in München. Der Tag glänzte. Als die Ernte eingefahren war, hatte die 25 Jahre alte Leverkusenerin drei Medaillen gewonnen, davon zwei aus Gold und eine aus Silber. Ihr Bekanntheitsgrad lag bei 97 Prozent, so viel wie bei Volkswagen.
Heide Rosendahl setzte Spiele in Gang, mit denen die Gastgeber unter einem weißblauen Himmel ihre gewonnene Weltläufigkeit vorzeigen wollten, 27 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hatte sich ergeben, dass die Organisatoren während der ersten fünf Tage in München immer noch mit leeren Händen dastanden. Ironisch titelte eine Boulevard-Zeitung: „Die anderen siegen, wir bleiben heiter.“
Jetzt begann die Leichtathletik, die olympische Kernsportart. Heide Rosendahl war zwei Jahre vorher mit der Weite von 6,84 Meter im italienischen Turin Weltrekord gesprungen. „Die Deutschen haben nur Augen für sie“, hatte eine französische Schlagzeile geheißen. Schon im ersten Durchgang schaffte sie vor 80.000 Zuschauern tatsächlich mit 6,78 Meter den ersten bundesdeutschen Sieg vor der Bulgarin Diana Jorgowa.
Sie selbst sagte im Rückblick: „Ich war lange nicht mehr so fröhlich wie an jenem Donnerstag.“ Sie habe weiterhin neugierig die Zeitungen gelesen und sich gesagt: Was soll’s. Und: „Die Olympischen Spiele waren für mich eine Ballung an Faszination.“ Nur einmal war ihr angst und bang. Da lief Frau Jorgowa zum sechsten und letzten Versuch an, und sie selbst hätte sich nicht mehr wehren können. Sie hatte ihren Wettkampf ja schon beendet. „Ich konnte gar nicht hinschauen, als die sprang, so fertig war ich.“
Acht Jahre vorher durfte sie als 17-Jährige mit der Deutschen Sportjugend ins japanische Tokio zu den Olympischen Spielen fliegen; sie war schon deutsche Jugendmeisterin im Weitsprung geworden. Überhaupt, ihr Vater hatte drei deutsche Titel im Diskuswerfen gewonnen. Die Leichtathletik lag ihr im Blut. „Bei der Rückkehr überraschte ich meine Eltern mit dem Entschluss, Sportlehrerin zu werden. Olympia hatte mich in eine Art Begeisterungstaumel versetzt.“ Es war der erste bewusste Schritt in das Wunderland ihres Lebens.
Zwei Tage nach ihrem Befreiungsschlag mit dem Olympiasieg begann der Fünfkampf, im dem sie im Jahr davor in Helsinki Europameistern geworden war. Auch den Weitsprung (mit 6,66 Meter) hatte sie dort gewonnen. Schnell war die rotblonde Brillenträgerin aus dem Rheinland in jungen Jahren eine Große geworden. Doch sie schleppte auch schon erlittene Erschütterungen mit sich herum. Bei den Spielen in Mexico-City 1968 war sie Favoritin gewesen, im Fünfkampf. Aber damals hatte sie sich zehn Minuten vor ihren Start eine Zerrung im linken Oberschenkel zugezogen. Olympiasiegerin wurde die Westfälin Ingrid Becker, während sie selbst enttäuscht auf ihrem achten Platz im Weitsprung (6,40 Meter) sitzen blieb.
Sie weigerte sich trotzdem, ihr olympisches Abschneiden eine Tragödie zu nennen. „Was soll ich verlorenen Medaillen nachtrauern? Es gibt Wichtigeres im Leben.“ Sie nannte ein Beispiel. „Wenn ich eine wichtige Prüfung an der Sporthochschule verpatzt hätte, wäre das viel schlimmer gewesen als eine Verletzung bei den Spielen. Mit ihren 22 Jahren war sie schon Diplom-Sportlehrerin und wissenschaftliche Assistentin in Köln. Finanziell unabhängig. Ihre sportliche Karriere stotterte weiter bei den Europameisterschaften in Athen 1969. Zusammen mit der bundesdeutschen Mannschaft war sie auf Boykott eingestellt, nachdem der Mittelstreckler Jürgen May aus Erfurt als „Republikflüchtling“ von Ost nach West wenige Tage vor den Wettkämpfen gesperrt worden war.
Richtig war, dass „die Rosendahl“ während der letzten fünf Jahre alle ihre 15 Fünfkämpfe gewonnen hatte; den Weltrekord aber hielt die DDR-Athletin Burglinde Pollak. „Wissen Sie“, sagte sie, „ich bin in erster Linie Mehrkämpferin“. Gerd Osenberg, der ihr Trainer in all den 14 Jahren ihres Sporttreibens war, sagte über sie: „Sie braucht Gegnerinnen. Und sie wächst daran. Ihr vielleicht einziger Nachteil: Sie ist gelegentlich trainingsfaul.“ Ihre Gegenrede lautete. „Aber ich bin ein Kämpfertyp. Ich fuhr meinen Gegnerinnen hinterher, um ihre Form zu studieren. Um sie kennen zu lernen.“
Die Dramatik des Fünfkampfs in München begann in der dritten Übung, dem Hochsprung. Als die Nordirin Mary Peters plötzlich die Höhe von 1,82 Meter überquerte, was sie nur dem Fosbury-Flop zu verdanken hatte. Diese Rücklings-Überquerung der Latte hatte der US-Amerikaner Dick Fosbury mit 16 Jahren zu Hause im elterlichen Garten zufällig entwickelt. Danach setzte er sich in den Fahrstuhl nach oben und stieg in München erst als Olympiasieger aus, bei der Höhe von 2,24 Meter. In der Vor-Fosbury-Zeit war Frau Peters schon froh, eine Höhe von 1,65 Meter zu meistern. Heide Rosendahl blieb in München genau bei dieser Leistung hängen. Das war ihre Normalform, wie sie es auch die 13,34 Sekunden über 100 Meter Hürden und die 13,86 Meter im Kugelstoßen waren. Leider hatte sie einen Defekt an der Wirbelsäule, ein Erbstück mütterlicherseits, und deshalb blieb ihr der recht leicht erlernbare Flop versagt.
Die abrupte Wende kam am nächsten Tag gleich mit der vierten Übung, dem Weitsprung. Sie eröffnete ihn mit 6,83 Meter. Zwar bei einem zu starken Rückenwind, was sich im Mehrkampf freilich nicht auswirkt. Im zweiten der drei möglichen Versuche ging sie volles Risiko. Und es stellte sich heraus: Es der perfekteste Sprung ihrer Laufbahn. Aber der deutsche Kampfrichter zeigte nach einem kurzen Zögern die rote Fahne. Ihm hatte der Augenschein genügt. Die Regel billigte ihm diesen Ermessungsspielraum ausdrücklich zu.
Dr. Max Danz, der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, wurde auf Heide Rosendahls Wunsch herbei gebeten. Hier war er das rotbefrackte Aufsichtsorgan. Er kam, sah und bestätigte die Tatsachenentscheidung. Es war ein Siebenmetersprung. „Jahre später sagte mir Max Danz, dass auch er wie ich keinen Absprung im Plastilin sah. ‚Aber’, fragte er sich damals, ‚was würde das Ausland sagen’. Erst später ging mir auf, was eine andere Entscheidung für mich bedeutet hätte: Der erste Siebenmetersprung der Sport-Geschichte. Weltrekord. Und Goldmedaille im Fünfkampf.“ Den größten Stern hatte sie nicht vom Himmel holen können. Es war ihr persönliches Opfer, das sie der olympischen Heiterkeit bringen musste. Im dritten Durchgang landete sie bei 6,68 Meter.
Zum Ausklang stellte sie über 200 Meter mit der Zeit von 22,96 Sekunden einen neuen bundesdeutschen Rekord auf, trotz einem Gegenwind von 0,4 Meter pro Sekunde. Zuletzt war es zwischen den drei Fünfkämpferinnen Peters, Pollak und Rosendahl dermaßen knapp geworden, dass sie genauso gut eine Münze hätten werfen können. Mary Peters holte Gold (4801 Punkte) vor Heide Rosendahl (4791) und Burglinde Pollak (4768). Nach der 1985 eingeführten Punktwertung hätte allerdings Heide Rosendahl mit neun Punkten Vorsprung gewonnen.
Am nächsten Tag lag plötzlich der Schatten des Todes über den olympischen Stätten. Die palästinensische Freischärler-Organisation „Schwarzer September“ überfiel im Olympischen Dorf das israelische Haus und tötete zwei israelische Sportler. Nach einem Feuergefecht starben am nächsten Tag bei der Ausreise auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck weitere neun Israelis, ein deutscher Polizeibeamter und sechs Terroristen. „Ich war“, sagte Heide Rosendahl, „1971 und 1972 in Israel zu einigen Trainingslagern. Einige Erinnerungen sind erloschen.“
Für sie stand nach der Trauerfeier im Olympiastadion, während der die Spiele ruhten, noch der letzte Teil ihrer olympischen Trilogie an. Die Sprintstaffel, mit ihr als Schlussläuferin. „Mich hatten sie ausquartiert. In ein Hotel. Unter falschem Namen. Dann kam die Staffelgeschichte, die sich über das gesamte Jahr aufgebaut hatte.“ Und der Überfall der Palästinenser? „Ich durfte über den Palästinenser-Überfall gar nicht anfangen, nachzudenken. Sonst hätte ich es nicht verkraftet.“
Schon im Mai hatte Heide Rosendahl ihre Anwartschaft auf einen Platz in der Staffel angemeldet, spürte aber, dass die Sprinterinnen unter sich bleiben wollten. Sie hätte ihnen gesagt: „Wenn jemand schneller ist, mache ich Platz.“ Sie wurde bei den Deutschen Meisterschaften Zweite über 100 Meter in 11,45 Sekunden. „Sie sagten mir, sie seien in Sorge, dass ich zuviel mache. Ich habe gesagt: ‚Mädchen, wenn ich an den Start gehe, will ich auch gewinnen’.“ Sie wurde die Schlussläuferin.
Im Vorlauf lag die DDR mit 42,88 vor der BRD mit 42,97. Die Ostdeutschen vor den Westdeutschen. Als erste trug Renate Stecher aus Jena den Stab ins Ziel, die Doppel-Olympiasiegerin im Sprint. Sie hatte gerade zwei neue Weltrekorde aufgestellt, mit 11,07 Sekunden über 100 Meter und 22,40 Sekunden über 200 Meter. Sie war die erfolgreichste Leichtathletin von München. Dann kam Heide Rosendahl daher, und kündigte in ihrem kleinen Kreis an: „Wenn ich den Pinn genauso kriege wie im Vorlauf, gewinnen wir die Staffel!“
Der Endlauf. Bahn 2 DDR. Bahn 4 BRD. Beim letzten Wechsel lag Heide Rosendahl vierzig Zentimeter voraus, als Annegret Richter ihr den Stab in die rechte Hand schob. Den winzigen Vorsprung baute sie zuletzt sogar noch auf über einen Meter aus. Die Endzeiten: 42,81 gegenüber 42,95. Die Ersatzfrau Christiane Krause und Ingrid Becker waren die zwei anderen Vorläuferinnen. Die Siegerin hatte das letzte 100-Meter-Teilstück „fliegend“ in 10,26 Sekunden zurückgelegt. Stecher erzielte nur 10,36. Auf der Außenbahn holte Australien Bronze mit Realene Boyle. Sie war mit 10,16 Sekunden die Schnellste im Feld. Es stimmte, dass sich die Form von Renate Stecher in ihrem zehnten Sprint-Rennen in München wieder auf dem absteigenden Ast befand.
Im Schlepp ihrer Glücksbotin wuchsen die bundesdeutschen Leichtathleten mit sechs Goldmedaillen, drei aus Silber und zwei aus Bronze über sich hinaus. Der „kicker“ schlug vor, ihr Leverkusener Trainingsgelände am Mandorfer Stadion in „Rosendahler Heide“ umzutaufen.
Erst mit ihrem Beitrag zum Staffel-Gold hatte Heide Rosendahl den angestauten unzufriedenen Rest beseitigt. Wenig später hörte sie mit dem Wettkampfsport auf. „Als einziges Ziel wäre mir der erste Siebenmeter-Sprung einer Frau übrig geblieben. Das war mir, ehrlich gesagt, zu wenig.“ Weil alles eine Zeit hat, heiratete sie einen Basketballspieler aus den USA, den Lehrer John Ecker, und gründete eine Familie.
Damit es nicht untergeht: Sie holte 43 deutsche Titel und stellte 42 nationale Rekorde und Bestleistungen auf. All dies ist die legendäre Girlande, die sich um ihre grandiosen Münchner Tage schlang.
Robert Hartmann, Mai 2011
Literatur zu Heidemarie Ecker-Rosendahl:
Gerd Osenberg, Heide Rosendahl: Sprinten und Springen. München, Bern, Wien, 1973