Fußball
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Mit der Nationalmannschaft:
Mit dem FC Bayern München:
Mit dem FC Bayern wird er 1969 das erste Mal deutsche Meister - ein Titel, den er noch drei weitere Male gewinnen wird.
1970 betritt Gerd Müller die internationale Bühne: Mit 10 Treffern kürt er sich zum Torschützenkönig der WM 1970.
Im Bücherschrank reihen sich Biografien berühmter Fußballspieler: Fritz Walter, uns Uwe Seeler, Lothar Matthäus, Günter Netzer, Wolfgang Overath, Toni Schumacher, Sepp Maier, sowieso die von Beckenbauer, mehrere gleich, von Michael Rummenigge sogar. Gerd Müller? Fehlanzeige – warum? Das Reden, sagt Müller, habe er anderen überlassen. Das Schreiben haben andere auch anderen überlassen. Es hat sich aber keiner gefunden für die „Gerd Müller Story“. Die gibt es bloß auf Kassette, produziert vom ehemaligen Torhüter Manfred Müller. Müller zahlte Müller fünf Mark Tantiemen pro Stück, und doppelt so viel, als der Gerd dringend Geld brauchte.
Was für eine Vita – und kein Autor. Sagen Zahlen mehr als Worte? 68 Tore in 62 Länderspielen; Jürgen Klinsmann benötigte 108 für 47 Treffer. 365 Tore in 427 Bundesligaspielen; Klaus Fischer ist Zweitbester mit 268 Toren. Sieben Mal Torschützenkönig der Bundesliga, 1971/72 40 Tore, Rekord. Elf Mal vier und mehr Tore in einem Spiel. WM: 1970 zehn Tore, 1974 vier, das letzte Tor war das Wichtigste, zum finalen Sieg über die Niederlande.
Im Gerd-Müller-Buch würden wir lesen, wie alles angefangen hat. In Nördlingen, mit 14 als Arbeiter in der Weberei; als 16-Jähriger schon 198 Mal ins Tor getroffen, in einer Spielzeit. Mit 19 zum FC Bayern nach München, dessen Trainer Tschik Cajkovski die Hände über dem Kopf zusammenschlug und stöhnte: „Was soll ich mit diese Junge, diese Figur, unmöglisch.“ 1,76 Meter, 80 Kilo, gewaltige Oberschenkel, kurzer Rumpf, Lieblingsgericht Kartoffelsalat. Müller verdiente sich ein Zubrot als Möbelpacker. Hans Schiefele, damals Fußballredakteur der Süddeutschen Zeitung, später Vizepräsident des FC Bayern München, erinnerte sich, dass Müller einen Schrank in seine Wohnung im vierten Stock hoch schleppte. Er gab dem Fußballer fünf Mark Trinkgeld.
Ein Kapitel des Buchs müsste dem Sänger Gerd Müller gewidmet sein. „Dann macht es bumm, ja und dann kracht’s, und alles schreit, der Müller macht’s.“ Auf dem Cover der Schallplatte trug Müller Hermelin, Krone, das Szepter in der rechten, den Fußball in der linken Hand. Und dann die Bildseiten: Viele entscheidende Tore dabei, kuriose auch, aber spektakuläre? Von Uwe Seeler gibt es ein Foto, wie er im Hechtsprung den Ball mit dem Kopf verfehlt und mit der Hacke trifft: Tor. Klaus Fischer war berühmt für seine Fallrückzieher, Horst Hrubesch geisterte als Kopfball-Ungeheuer durch die Strafräume.
Den Gerd Müller nannten sie „Bomber“, doch häufig waren seine Tore unspektakulär. Er vertraute im Strafraumgetümmel seinem Instinkt, seinem Reaktionsvermögen und auf seinen kongenialen Doppelpasspartner Franz Beckenbauer. Der hat das mal so beschrieben: „Wenn ich mit dem Ball von hinten kam, zitterten ihm schon die Oberschenkel.“ Manchmal räumte Müller den Weg mit seinem Hinterteil frei. In ihrer Ratlosigkeit prägten Journalisten den Begriff „müllern“. Gerd Müller rät den Stürmern noch heute: „Nicht einfach draufhauen, man muss den Ball auch mal schieben oder lupfen. Kleine Tore zählen auch.“
Sein Siegtor bei der WM '74 war auch kein Knaller. Wenn sich Gerd Müller die Szene ins Gedächtnis ruft, ist Fantasie gefragt. Der Ringfinger seiner linken Hand, das ist der Grabowski. Und der Zeigefinger, das ist der Bonhof. „Also, die stehen rechts“, sagt Gerd Müller, und setzt die Fingerspitzen auf den Tisch; den muss man sich grün vorstellen, er ist das Spielfeld des Münchner Olympiastadions. Und Müller stämmig, mit schwarzem Haar und Bart, nicht schlank, graumeliert und mit Brille, wie er jetzt dasitzt im Besprechungszimmer des FC Bayern München.
Beim Blick in die Vergangenheit funkeln die Augen hinter den Gläsern. „Der Bonhof spielt den Ball rein, und ich bin da ungefähr“, in diesem Augenblick in Gestalt des rechten Zeigefingers. „Da stehen zwei Holländer.“ Die Finger, die eben noch Grabowski und Bonhof waren, heißen jetzt Rijsbergen und Krol, „der ist bei mir dran. Ich geh’ nach vorn und geh’ dann zurück. Der Ball springt auf meinen linken Fuß und springt dann weg.“ Wer ein Foto dieser Szene vor Augen oder sie live erlebt und im Gedächtnis gespeichert hat, sieht Krol verzweifelt grätschen. „Und in dem Moment hab’ ich mit dem rechten Fuß aus der Drehung geschossen, ins lange Eck.“ Müller nimmt die Hände vom Tisch. 2:1 in der 44. Spielminute, eine Halbzeit später war die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland Fußball-Weltmeister.
In einer Biografie würde wohl noch einmal darüber gerätselt, weshalb an diesem Abend vor der Tür des Bankettsaals Frau Müller Herrn Müllers Rücktritt verkündete. Überall Ratlosigkeit, nicht beim Bundestrainer. „Ich habe dem Schön gesagt, dass das mein letztes Spiel ist. Der hat gesagt, ich soll nichts sagen bis nach dem Spiel“, erinnert sich Gerd Müller. Mit 28 Schluss gemacht, „es war vielleicht ein Fehler, aber ich hab’ es nicht bereut. Ich war ja bloß noch unterwegs, meine Tochter hat schon gesagt, wer ist denn der Onkel, wenn ich heimgekommen bin. Ich hätte auch aufgehört, wenn wir nicht Weltmeister worden wären.“ Es war das Ende einer Ära. Knapp acht Jahre lang hat Gerd Müller das Nationaltrikot getragen. Bei seinem Einstand, am 12. Oktober 1966 in Ankara beim 2:0-Sieg über die Türkei, war er 20 Jahre, 11 Monate und 9 Tage alt. „Der Uwe war verletzt, Ulsaß hatte sich im Training verletzt, sonst hätte ich gar nicht gespielt.“
Schon in seinem zweiten Länderspiel, am 8. April 1967, der EM-Qualifikation gegen Albanien in Dortmund, begann Gerd Müller, beim 6:0-Sieg mit vier Treffern Maßstäbe zu setzen. Dreimal noch sind ihm in Länderspielen vier Tore gelungen: Gegen Zypern, die Schweiz und die UdSSR, im Eröffnungsspiel des Münchner Olympiastadions. Und zwei Jahre später dort der Treffer zum 2:1-Sieg im WM-Finale, „sicher, das war mein wichtigstes Tor“. Aber viele andere Treffer seien auch entscheidend gewesen. Zum Beispiel jene auf dem Weg zur Qualifikation für die WM 1970 in Mexiko. Zweimal erzielte Müller das einzige Tor für das deutsche Team, gegen Zypern in der dritten Minute der Nachspielzeit, und in Nürnberg beim 1:1 gegen Österreich zwei Minuten vor Schluss. Daran erinnere er sich gerne. „Der Volkert vom Club haut den Ball rein. Ich heb’ ihn mit dem linken Fuß über mich drüber, steig’ hoch und köpf’ ihn rein.“
Mexiko 1970? „Das war die schönste Weltmeisterschaft für mich, und es war die beste Mannschaft, in der ich gespielt habe, nicht die Europameistermannschaft.“ Warum? „Erstens haben wir in Mexiko bis auf Marokko lauter schwere Gegner gehabt: Bulgarien, Peru, England, Italien, Uruguay. Und in den vier Wochen hat alles gepasst, da war kein Streit, gar nichts. Die Kameradschaft war da, wir haben Ausflüge gemacht, jeder hat dem anderen geholfen. Das war toll. Und wenn du gewonnen hast, da ist die Stimmung sowieso gut.“
Vorher war sie mies. Die Frage Seeler oder Müller spaltete die Nation, die Fans, die Mannschaft. Der Hamburger Mittelstürmer war lange verletzt gewesen, Müller hatte den Weg nach Mexiko frei geschossen. „Aber in den Vorbereitungsspielen hat der Uwe mehr Tore gemacht mit seinem Schädel. Dann hab’ ich gesagt, der Schön soll entscheiden, Uwe oder ich. Er hat dann gesagt: Wer schlecht ist, kommt raus. Da hab’ ich schon gewusst, dann komm’ ich raus, weil den Uwe Seeler hätte er nicht ausgewechselt. Dann haben wir gegen Marokko gespielt: Ich vorne, der Uwe Seeler und der Helmut Haller sollten sich abwechseln auf Rechtsaußen. Das war ein Witz, das konnten beide nicht, in der Hitze, in der Höhe. Dann hat er den Haller raus, der war nach 20 Minuten maustot. Wir haben 2:1 gewonnen. Gegen Bulgarien hat der Uwe zurückgezogen gespielt, ich hab’ drei Tore gemacht und eins vorgelegt, da war das alles gegessen.“
Und dann kam das „Spiel des Jahrhunderts“, gegen Italien. „I-ta-li-en“ sagt Müller, und seufzt tief. „Das war, das ist...“ Ihm fehlen auch heute noch die Worte. „Den Sigi Held könnt’ ich jetzt noch fressen. Weil der vorgelegt hat für die Italiener. Wenn der den Ball wegschlägt, dann passiert gar nichts.“ Er stoppte ihn für Burgnich: 2:2 in der 98. Spielminute. Beckenbauer spielte wegen einer Schulterverletzung mit dem Arm in der Schlinge. „Und? Da haben wir ja noch 2:1 geführt.“ Und dann 3:4 verloren, Endspiel verpasst, trotz zweier Müller-Treffer. Das Spiel gegen die Italiener steht in Gerd Müllers Hitliste erst an dritter Stelle. Nummer eins und zwei: Die beide Viertelfinal-Siege über die Engländer, 1972 im Wembleystadion während der EM (3:1), 1970 in León bei der WM (3:2). In London schoss Müller im 37. Länderspiel sein 43. Tor und zog in der Torschützenliste der Nationalmannschaft mit Uwe Seeler gleich, „das war schon was, und in Wembley die Engländer schlagen sowieso.“
Andere gingen und kamen zurück. Fritz Walter feierte mit 36 sein Comeback, Uwe Seeler mit 33, bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko, an der Seite von Gerd Müller. Der aber hatte keine Lust mehr. Gewann mit dem FC Bayern noch zweimal den Europacup der Landesmeister und den Weltpokal. Und vermisste seinen in die USA emigrierten Passgeber Franz Beckenbauer. Trotzdem war er 1978, gemeinsam mit Dieter Müller, erfolgreichster Schütze der Bundesliga, ein letztes Mal.
Ein weiteres Kapitel des Gerd-Müller-Buchs würde wohl den Titel Trauerspiel tragen. Wie der FC Bayern und mit ihm der als Teamkapitän überforderte Gerd Müller in die Krise schlitterte. Das Angebot eines leistungsorientierten Vertrags beantwortete er gekränkt mit der Ankündigung seines Rücktritts. Worauf der um einen Vertrag kämpfende Übergangstrainer Pal Cernai keine Rücksicht mehr nahm und Müller im Frankfurter Waldstadion auswechselte.
Über seine Zeit als Fußballer in den USA sagte Müller rückblickend: „Das halbe Jahr gearbeitet, das andere halbe in München gewohnt; alles lief bestens, solange ich gekickt habe. Nachher wurde es komplizierter.“ Wieder daheim in München, sei er sich „irgendwie verloren“ vorgekommen. Er trank, „und keiner sagte was“. Der FC Bayern half dem Mann, von dem Beckenbauer sagt, ihm und seinen Toren verdanke der Klub seinen Aufstieg. Den Entzug brach Müller ab, er wollte sich selber helfen: „Ich kann ein sturer Hund sein.“ Alkohol ist für ihn seither tabu.
Uwe Seeler war Präsident des Hamburger SV; sein Fuß, in Bronze gegossen, vier Tonnen schwer, steht vor dem HSV-Stadion. Wolfgang Overath war Präsident des 1. FC Köln. Franz Beckenbauer ist der Kaiser, er war Trainer und Präsident des FC Bayern München sowie des Organisationskomitees der WM 2006, ist Lichtgestalt und Legende in Personalunion.
Gerd Müller wollte weder Kaiser noch Präsident sein, und seinem Denkmal wollte er nicht begegnen. Er hat immer weniger Aufhebens um sich selber gemacht als andere um ihn.
Hans Eiberle, Mai 2014
Literatur zu Gerd Müller:
Udo Muras und Strasser Patrick: Gerd Müller - Der Bomber der Nation. München 2015.