Fußball
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Im Jahr 1923 steht dem Nürnberger Maler Ludwig Kühn (1859-1936) ein Mann mit einer braunen Schiebermütze Modell. Es ist kein Politiker oder Musiker, der auf dem Gemälde verewigt wird, auch kein Schauspieler oder Militär. Es ist der neue Heldentypus eines Sportlers, der in der jungen Weimarer Republik hier gefeiert wird. Da posiert der größte Star des 1. FC Nürnberg. Ein Torwart, der mit seinen riesigen Händen einen Fußball festhält: Heiner Stuhlfauth in Öl.
Nicht ausgeschlossen, dass sich Maler und Torwart in der Sebaldusklause kennengelernt hatten. In dieser urigen Bierkneipe, die nach dem Schutzpatron der fränkischen Metropole benannt war, trafen sich von jeher die Künstler der Stadt. Insofern passte es, dass ebenjener Stuhlfauth in den 1920er Jahren als Wirt die Klause übernahm. Schließlich war er in der Wahrnehmung vieler Fußballfans einer der größten Künstler im Fußball, der in diesen Jahren die Massen begeisterte und zur populärsten deutschen Sportart heranwuchs.
Dabei hatte Stuhlfauth, der am 11. Januar 1896 in Nürnberg als Sohn eines Metallarbeiters geboren worden war, sich zunächst dem Radsport verschrieben, dessen Profis um die Jahrhundertwende schon Zehntausende Fans auf die Radrennbahnen lockten. „Ich trat in die Pedale und trainierte“, erzählte Stuhlfauth über seine Kindheit. Er habe sich in den Kopf gesetzt, ein berühmter Radsportler zu werden, doch: „Als es endlich so weit war, dass ich mein erstes Rennen bestreiten konnte, da verboten es mir meine Eltern.“
Die zweite Leidenschaft des Jungen sahen Mutter und Vater ebenfalls skeptisch. Jedenfalls schloss sich Stuhlfauth als Zwölfjähriger heimlich den Fußballern des FC Franken an. Dort spielte er zunächst als Stürmer. Auch beim FC Pfeil, zu dem er 1911 wechselte, lief Stuhlfauth noch als Feldspieler auf. Erst als der Torwart seines neuen Vereins 1914 eingezogen wurde, beorderte man Stuhlfauth aufgrund dessen Größe in den Kasten. Dort schlug er sich so gut, dass er 1915, inzwischen selbst in ein Pionier-Bataillon eingerückt, in die Auswahl des 3. Bayrischen Armee-Korps berufen wurde.
Der gelernte Elektrotechniker hatte Glück, nie an der Front des Ersten Weltkrieges eingesetzt zu werden. Stationiert in Nürnberg, wechselte er 1916 notgedrungen, da der FC Pfeil sich auflösen musste, zum 1. FC Nürnberg. An der sensationellen Siegesserie des „Clubs“ in den ersten Jahren der Weimarer Republik hatte der Torwart nun entscheidenden Anteil. Im ersten Endspiel nach dem Krieg, das am 13. Juni 1920 vor 35.000 Zuschauern in Frankfurt stattfand, blieb er im Lokalderby gegen die SpVgg. Fürth (2:0) ohne Gegentor und sicherte damit die erste Meisterschaft der Franken.
Die größte Ära in der Geschichte des 1. FC Nürnbergs ist aufs Engste mit dem Torwart verbunden. Stuhlfauth stand bei den ersten fünf Deutschen Meisterschaften des „Clubs“ im Tor und blieb bei den folgenden Endspielsiegen (1921, 1924, 1925, 1927) ohne Gegentreffer. Diese legendäre Mannschaft besaß weitere große Namen, den giftigen Angreifer Heiner Träg oder den wuchtigen Mittelläufer Hans Kalb. Auch andere Vereine produzierten nun Stars, die wie Schauspieler auf Autogrammkarten inszeniert wurden, etwa Richard Hofmann oder Willibald Kress. Aber der Torwart Stuhlfauth übertraf in diesem Fußball-Boom alle an Popularität. Weshalb es seinen Grund hatte, dass Fußballhistoriker wie Christoph Bausenwein in ihren Büchern später von „Stuhlfauths Zeiten“ schrieben.
Insbesondere zwei Eigenschaften Stuhlfauths, der mit dem Spanier Ricardo Zamora als bester Torwart des Kontinents gefeiert wurde, hob die zeitgenössische Journalistik immer wieder hervor. Einerseits sein herausragendes Stellungsspiel, das spektakuläre Flugeinlagen kaum erforderlich machte. Stuhlfauth spiele „mit einer ganz merkwürdigen prophetischen Gabe“, rühmte ihn 1921 der Herausgeber des kicker, Walther Bensemann. „Er schien Bälle anzulocken und sah genau voraus, wohin der Schuss gehen würde. Er konnte ihn daher mit Leichtigkeit abfangen.“ Stuhlfauth selbst beschrieb sein Credo so: „Ein guter Torwart wirft sich nicht.“
Auf der anderen Seite wurde er als zusätzlicher Verteidiger seiner Mannschaften, also mitspielender Torwart, beschrieben. Stuhlfauth entschärfte viele Gegnerangriffe, indem er die Bälle durch entschlossenes wie waghalsiges Herauslaufen klärte. „Im richtigen Moment aus dem Tor herausgehn – das muss einem gegeben sein. Manchmal hängt es von Bruchteilen von Sekunden ab, um früher als der Gegner am Ball zu sein“, so beschrieb Stuhlfauth sein Torwartspiel selbst. „Wenn der Torwart die Entfernung richtig abschätzen kann, wird er rechtzeitig am Ball sein.“ Bei dieser modernen Interpretation kam ihm seine Vergangenheit als Feldspieler zugute.
Logisch angesichts dieser Fähigkeiten, dass Stuhlfauth auch in der DFB-Elf zur Stammkraft avancierte. Nur zwei Wochen nach seinem ersten Meistertitel stand er im Tor, als die DFB-Auswahl am 27. Juni 1920 in Zürich gegen die Schweiz (1:4) ihr erstes Länderspiel nach dem Krieg bestritt. Bei der Rückkehr der Nationalmannschaft auf die olympische Bühne im Jahr 1928, das mit einem 1:4-Viertelfinal-Debakel gegen Uruguay endete, hütete der Nürnberger ebenfalls das deutsche Tor. Zur Legende des deutschen Fußballs aber wuchs er, der stets in einem grauen Wams und mit Schiebermütze auflief, erst als „Held von Turin“.
Denn Stuhlfauths Paraden, mit denen er am 28. April 1929 den 2:1-Auswärtssieg der Nationalmannschaft in der ausverkauften Arena Filadelfia möglich machte, wurden live durch das Radio in die deutschen Wohnzimmer übertragen. „Die Azzurri brausen unentwegt wie eine Sturmflut heran“, kommentierte Dr. Paul Laven dramatisch. „Wie ein Herrscher – er erscheint größer, wichtiger, als er ist – steht der Nürnberger Recke im deutschen Tor. Die Mütze hat er tief in die Stirn gezogen. Der ganze Strafraum gehört zu seinem Abwehrfeld. Immer wieder sind ganze Rudel Azzurri vor ihm, bedrängen ihn, schießen, jagen auf ihn los. Der Sebalduswirt aber weiß, was jetzt nottut. Gewiss, er ist nicht zimperlich. Wer mit ihm zusammenstößt, der fliegt wie ein Flederwisch mit knackenden Gelenken seitwärts.“
Insbesondere seiner Parade gegen Conti kurz vor dem Schlusspfiff wurde gehuldigt. Bei den Deutschen habe ein Gott im Tor gestanden, stöhnten danach die italienischen Zeitungen. Der deutsche Radioreporter überhöhte Stuhlfauths Taten ebenfalls: „Wie ein Gladiator, der um sein Leben kämpft, ist er eiskalt, auf alles gefasst, zu jedem Einsatz bereit. Unbarmherzig wie ein mächtiger Bauersmann, der seine Sense schwingt, mäht er die auf ihn eindringenden italienischen Stürmer beiseite.“ Diese Live-Premiere aus dem Ausland sei eine Sensation gewesen, berichtete Stuhlfauth anlässlich seines 70. Geburtstags. „Turin kam deshalb so groß heraus, weil dieses Länderspiel zum ersten Mal von Dr. Paul Laven im Rundfunk übertragen wurde.“
Ein Jahr später, 1930, beendete Stuhlfauth seine große Karriere im DFB-Dress, er kam auf 21 Länderspiele und war dabei sechs Mal als Kapitän aufgelaufen. Auch beim 1. FC Nürnberg endete seine Zeit. Ab 1932 arbeitete Stuhlfauth als gut bezahlter Trainer und Sportlehrer, zunächst in Weida/Thüringen, dann in Hagen/Westfalen und schließlich bei der Stadt Nürnberg. In den letzten beiden Kriegsjahren verdiente er sein Geld als kaufmännischer Angestellter bei der Rhenania Ossag, einem Vorläufer der Shell AG, bei der er auch nach 1945 in der Werbung arbeitete.
Darüber, warum er selbst 1938 in die NSDAP eintrat (Mitglieds-Nr. 4.856.731), hüllte er sich wie viele Deutsche in der jungen Bundesrepublik in Schweigen. Schicksale wie das des langjährigen jüdischen Weggefährten Walther Bensemann, der in seiner Sebaldusklause oft zugegen gewesen war und 1933 als kicker-Herausgeber aus Nürnberg vertrieben wurde, waren ebenfalls ein Tabu. Der Fußballhistoriker Bausenwein nimmt an, Stuhlfauths Parteieintritt habe im Zusammenhang mit dessen Anstellung bei der Stadt gestanden; der Torwart habe sich mit den Nazis arrangiert. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er als „Mitläufer“ eingestuft.
Es gehört jedenfalls zu den wenig ruhmreichen Wahrheiten der deutschen Fußballgeschichte, dass die Erinnerung an Stars wie Stuhlfauth, der am 12. September 1966 an einem Herzinfarkt starb, nach 1945 wachgehalten wurde, während das tragische Schicksal von Opfern der NS-Herrschaft wie Julius Hirsch oder Bensemann erst viel später wieder ins Gedächtnis gerufen wurde.
Erik Eggers, Dezember 2024
Quellen und Literatur zu Heiner Stuhlfauth:
Bundesarchiv, BArch_R_9361-VIII_KARTEI_22971388 (NSDAP-Zentralkartei)
Staatsarchiv Nürnberg; Spruchkammerakte Heinrich Stuhlfauth (S944)
Christoph Bausenwein: Die letzten Männer. Zur Gattungsgeschichte und Seelenkunde der Torhüter. Göttingen 2003
Christoph Bausenwein: Stuhlfauths Zeiten. Die goldenen Jahre des Fußballs. Göttingen 2017
Erik Eggers: Fußball in der Weimarer Republik. Kellinghusen 2020 (2. Auflage)
Theo Riegler: Als Stuhlfauth noch im Tor stand. Ein Buch vom deutschen Fußball. München 1953