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Ski Alpin
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Jubelnd reißt Hilde Gerg am 19.2.1998 die Arme und Skier in die Höhe. Die Athletin aus Lenggries sicherte sich an diesem Tag die olympische Slalom-Goldmedaille (Foto: picture alliance).
Eine Kämpfernatur: Mitten in der Saison im Winter 2000 brach sich Gerg bei einem Trainingsunfall das Bein. Doch die Athletin ließ sich von diesem Rückschlag jedoch nicht unterkriegen und kämpfte sich nach zwei Jahren Pause wieder in die Weltspitze (Foto: picture alliance).
Gerade erst zurück im Wettkampfgeschehen passiert der nächste Rückschlag: Bei der Abfahrt von Lake-Luis im Dezember 2002 riss sich Hilde Gerg das Kreuzband – und fuhr trotzdem, mit verletztem Knie, weiter. An ein Karriereende war trotz sechsmonatiger Verletzungspause nicht zu denken (Foto: picture alliance).
Nach ihrem großen Erfolg bei den vorherigen Olympischen Spielen 1998 in Nagano durfte Gerg bei der Eröffnungsfeier in Salt-Lake City 2002 nicht nur als teilnehmende Athletin, sondern auch als Fahnenträgerin zurückkehren – und als die damals erste alpine Athletin in dieser Funktion (Foto: picture alliance).
Hilde Gerg mit ihrem damaligen Trainer und Freund Wolfgang Grassl, der 2010 aufgrund eines plötzlichen Herztodes verstarb (Foto: picture alliance).
Auch nach ihrem Karriereende bleibt sie dem Skisport treu: Als Fernseh-Expertin und Co-Moderatorin begleitet Hilde Gerg bis 2012 die Skiübertragungen im ZDF (Foto: picture alliance).
Drei Jahre nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns Wolfgang Grassl lernte die ehemalige alpine Skirennläuferin ihren heutigen Ehemann Marcus Hirschbiel kennen, mit dem sie 2015 ihren Sohn Benedict zur Welt brachte (Foto: picture alliance).
Als Schirmherrin engagiert sich Gerg, die bereits eine eigene Stiftung gegründet hat, für die Nicolaidis YoungWings Stiftung, die junge Trauernde unterstützt und begleitet. Gemeinschaftserlebnisse wie das 2014 stattgefundene Benefiz-Golfturnier sollen Betroffenen Raum geben, sich mit anderen auszutauschen, aber auch, um Momente der Leichtigkeit in solch schweren Zeiten zu schaffen (Foto: picture alliance).
Erst vor kurzem hat Hilde Gerg die wichtigste Trophäe ihrer sportlichen Karriere wieder einmal aus dem Kasten geholt, 20 Jahre nach den Olympischen Winterspielen in Nagano. Aber dieses Mal, um sie endlich in einen passenden Rahmen zu stellen. Jetzt steht das Slalom-Gold von 1998 auf dem Kachelofen daheim im Wohnzimmer, zusammen mit anderen Medaillen und den Weltcup-Kugeln.
Manchmal dauert es eben, bis der richtige Platz gefunden ist. Für die heute ehemalige Skirennläuferin gab es in den letzten Jahren aber Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Medaillen zu kümmern. Das Leben, den Alltag neu zu ordnen, ist für fast alle Leistungssportler nach ihrer Karriere eine Herausforderung, für Hilde Gerg war es jedoch eine besonders große. Mit 34 Jahren verlor sie ihren Ehemann, musste von einem Tag auf den anderen erst einmal alleine für zwei kleine Kinder sorgen, sich zudem um Ferienwohnungen, ein Feld und ein Waldstück kümmern.
Womöglich half ihr bei der Aufgabe auch, dass sie früh gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Unbeschwert wuchs Hilde Gerg auf dem Brauneck, einem beliebten Ski- und Wanderberg im bayerischen Voralpenland, auf. Die Eltern hatten ein Jahr vor ihrer Geburt die bewirtschaftete Tölzer Hütte auf knapp 1500 Meter Höhe übernommen. Skifahren wurde Hilde Gerg damit fast in die Wiege gelegt, denn im Winter kam man von dort oben nur mit dem Skidoo oder eben auf zwei Brettern ins Tal. Klar, dass sie den tätlichen Schulweg zusammen mit ihrer Freundin Martina, deren Eltern Skilifte auf dem Brauneck betrieben, auf Skiern zurücklegte. Der Papa brachte den Schulranzen mit dem Skidoo ans Ende der Piste, von dort fuhr er die Kinder, später war auch noch Hildes jüngerer Bruder Stefan dabei, zur Schule. Dort, sagt die heute 46-Jährige, „waren wir schon ein bisschen die Außenseiter, eben die von der Alm oben.“
Wenn nach der Schule niemand Zeit hatte, die Kinder wieder abzuholen, gingen sie die gut zwei Kilometer zurück zum Lift - mit den schweren Skischuhen an den Füßen, weil die anderen Schuhe ja in der Schule bleiben mussten für den nächsten Tag. „Ich hatte ein ganz anderes Leben als meine Mitschülerinnen“, sagt Hilde Gerg. Während sich die Klassenkameradinnen nachmittags zum Spielen treffen konnten, sich gegenseitig zum Geburtstag einluden und Freundschaften schlossen, musste sich die Wirtstochter oben auf dem Berg oft selbst beschäftigen, weil die Eltern alle Hände voll zu tun hatten, um die Wander- oder Skitouristen zu versorgen. „Da ist man schnell selbstständig geworden, weil man auf sich selbst gestellt war.“
Die Freundin vom Brauneck war lange die einzige Spielkameradin. Als die dem Skiclub Lenggries beitrat, begleitete Hilde sie oft zum Training auf eine der Pisten. „Ich bin dann daneben runtergefahren und unten am Lift haben wir uns getroffen.“ Weil das auf Dauer aber doch ein bisschen langweilig war, überredete sie die Eltern, auch in den Skiklub eintreten zu dürfen. Die stimmten zu, unter der Bedingung, die Tochter im Winter nicht zu den Konditionseinheiten fahren zu müssen. „Dafür hatten sie keine Zeit.“
Neun Jahre war sie damals – und gehörte damit eher zu den Spätstartern beim SC Lenggries. Die gleichaltrige Cousine Annemarie Gerg, die unten in Lenggries wohnte, oder die etwas ältere Martina Ertl, beide später ebenfalls im Weltcup unterwegs, hatten damals längst ihre ersten Kinderrennen hinter sich und schon den einen oder anderen Erfolg feiern können. Bei Hilde ging das nicht so schnell. An ihren ersten Pokal kann sie sich noch erinnern, „der war ein Heiligtum für mich“. Auch weil er für längere Zeit der einzige war. Erst bei den Schülern, sagt sie, „ist meine Skikarriere so richtig in Gang gekommen“. Zu der Zeit wechselte sie auf ein Skiinternat, zunächst nach Garmisch-Partenkirchen, später dann nach Berchtesgaden. Schule und Sport waren dort leichter zu vereinbaren.
Als Teenager das Elternhaus zu verlassen, ist nicht so einfach. „Die Zeit im Internat“, sagt Hilde Gerg, „hat mich geprägt.“ Es bedeutet eine frühe Abnabelung von zu Hause, einen weiteren Schritt in die Selbstständigkeit. Schon damals stach sie mit ihrer Zielstrebigkeit heraus. Mit 17 debütierte sie im Weltcup – mit einem beachtlichen Ergebnis. Beim Slalom in Cortina d’Ampezzo qualifizierte sich Gerg mit hoher Startnummer für den zweiten Durchgang und landete dort auf dem 23. Platz.
Hilde Gergs Stärken lagen damals im Slalom. Allerdings galt sie schon im Nachwuchs als Allroundtalent, eine, die in allen Disziplinen zu den Besten zählen kann. Tatsächlich schaffte sie ihren ersten Weltcupsieg im Super-G, nur ein gutes Jahr nach ihrer Weltcup-Premiere. Kurz vor den Olympischen Winterspielen 1994 gewann sie in der Sierra Nevada – und fuhr damit sogar als Medaillenkandidatin nach Lillehammer. Aber „mit der Situation war ich mit meinen 18 Jahren überfordert“, gibt sie zu. Im Super-G wurde sie nur 18., doch die noch größere Enttäuschung erlebte sie ein paar Tage später im Riesenslalom. Als Zweite des ersten Durchgangs war Hilde Gerg bis kurz vor dem Ziel auf Medaillenkurs, ehe sie am drittletzten Tor stürzte. „Das war für mich damals total dramatisch“, sagt Hilde Gerg. Eine verpasste Chance mit Folgen. Vor allem für den Riesenslalom, „da hat mir anschließend immer das Freche, das Unbekümmerte gefehlt, deshalb habe ich da auch nie ein Rennen gewonnen.“ Anders als in den anderen alpinen Disziplinen.
Nach dem rasanten Aufstieg, in jenem Jahr holte Hilde Gerg auch noch Gold im Super-G bei den Junioren-Weltmeisterschaften, „dachte ich, es geht so weiter“. Aber es ging nicht so weiter, weil man im jugendlichen Überschwang eben manchmal vergisst, dass die Arbeit damit noch längst nicht getan ist. Oben bleiben, hat Hilde Gerg festgestellt, ist mindestens so schwer, oder sogar noch schwerer, als nach oben zu kommen. „Ich glaube, ich hatte den Job damals noch nicht kapiert.“ Dazu kam, dass sie sich in jenem Winter ausgerechnet in ihren Trainer Wolfgang Graßl verliebte. Eine Beziehung, die Probleme barg, und deshalb entschieden beide, sie erst einmal geheim zu halten.
Nach zwei mageren Jahren kehrte Hilde Gerg mit 21 gereift in die Weltelite zurück. Die Verbindung zu Wolfgang Graßl war mittlerweile offiziell – und die Teamkolleginnen hatten sich dafür ausgesprochen, dass er Trainer blieb. Gerg selbst sah diese Trainer-Athletin-Beziehung in der Mannschaft nicht ganz so unproblematisch, ließ sich aber überzeugen. Bei den Weltmeisterschaften in Sestriere 1997 holte sie ihre ersten Medaillen, Bronze im Super-G und in der Kombination. Ein Jahr später wurde Hilde Gerg Olympiasiegerin im Slalom. Ein überraschender Erfolg, aber einer mit Ansage. Denn ein paar Wochen davor hatte Gerg im Weltcup bereits einen Torlauf gewonnen. Und weil ihr Freund und Trainer den zweiten Lauf gesetzt hatte, wurde daraus medial schnell eine kitschige Liebesgeschichte „mit goldener Nebenwirkung“, wie der „Münchner Merkur“ damals schrieb. Der dritte Platz im Gesamtweltcup – hinter ihren Teamkolleginnen Katja Seizinger und Martina Ertl – rundete die erfolgreiche Saison ab.
Im Winter darauf fiel Katja Seizinger wegen einer Verletzung aus und kehrte auch nie wieder zurück in den Weltcup. „Das war für uns nicht so einfach, dass die Leaderposition plötzlich nicht mehr besetzt war“, sagt Hilde Gerg. „Damit hat sich die Dynamik in der Mannschaft verändert.“ Und wenn das, was zuvor hervorragend war, plötzlich nur noch gut ist, es statt 17 deutsche Weltcup-Siege im Jahr nur noch drei gibt, dann werden Dinge in Frage gestellt. Unter anderem, dass der Techniktrainer mit einer seiner Läuferinnen liiert ist. Graßl trat mitten in der Saison zurück und kurz danach war auch für Hilde Gerg der Winter vorbei: Sie brach sich im Training das Bein. Damals stellte sie sich die Frage, ob sie überhaupt noch einmal zurückkehren wolle. Aber sie ist eine Kämpferin, und die Auszeit heilte auch die seelischen Wunden.
Längst hatte sie den Beinamen „wilde Hilde“, der zwar so gar nicht zur Gefühlsskifahrerin Gerg passte, dafür ums so besser das Temperament der Athletin beschrieb. Impulsiv und deshalb für ihr Umfeld oft nicht einfach, aber sie war eben auch eine Athletin, die einen genauen Plan hatte – und die sich nicht verbiegen ließ. Als das Comeback nach ihrem Beinbruch nicht so verlief, wie es sich vorgestellte hatte, entschied Gerg, nun frisch verheiratet mit Wolfgang Graßl, noch einmal eine Pause einzulegen. Nicht alle Trainer hießen diese Entscheidung gut, aber am Ende sollte Gerg recht behalten. Nur ein paar Wochen nach ihrer zweiten Rückkehr gewann sie bei der WM in St. Anton Bronze im Super-G.
Ihr Umfeld schätzte sie als kritische Athletin, die sehr professionell ihren Job betrieb und ihre Vorstellungen nicht nur einbrachte, sondern auch durchsetzte. Auch 2002, als im Dezember bei der Abfahrt von Lake Louise das Kreuzband riss, war es ihre Entscheidung, es mit dem lädierten Knie zu versuchen und sich erst am Saisonende operieren zu lassen. Da war schon klar, dass die Karriere noch ein paar Jahre dauern sollte. Als Schlusspunkt wurden die Olympischen Winterspiele in Turin angepeilt. Dieser letzte Plan scheiterte allerdings, das letzte Großereignis für Gerg war die WM in Bormio 2005, bei der sie mit der Mannschaft im Teamevent Gold gewann. Ein paar Monate später endete die Karriere bei einem Trainingslauf in Copper Mountain mit einer weiteren schweren Knieverletzung – nach 20 Weltcup-Siegen, vier kleinen Weltcup-Kugeln für die Gesamtsiege im Super-G (1997, 2002) und Kombination (1998, 1999) sowie den insgesamt zwei Medaillen bei Olympia (Gold und Bronze 1998) und vier bei Weltmeisterschaften.
Nach der Karriere kümmerte sie sich in Berchtesgaden, das längst Heimat für sich geworden war, um den Ausbau der Ferienwohnungen und blieb dem Skisport als Fernseh-Expertin beim ZDF erhalten. Im September 2007 kam Tochter Anna zur Welt, knapp zwei Jahre später Sohn Wolfgang. Das Familienglück der Hilde Gerg war perfekt, ehe sie im April 2010 mit dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes ein schwerer Schicksalsschlag traf. „Du alterst gefühlt in einem solchen Moment um 100 Jahre“, beschrieb sie die Situation damals in einem Magazin. Aber Hilde Gerg ist eben keine, die sich unterkriegen lässt. Sie arbeitete weiter für das ZDF, begann ein Gesundheitsmanagement-Studium und lernte 2013 ihren heutigen Ehemann, den Physiotherapeuten Marcus Hirschbiel, kennen. 2015 kam der gemeinsame Sohn Benedict zur Welt. Mittlerweile arbeitet sie als Personalcoach.
Hilde Gerg, die seit ihrer zweiten Heirat Graßl-Hirschbiel heißt, ist Schirmherrin des YoungWings-Laufes, mit diesem werden junge Trauernde unterstützt. 2002 hatte sie bereits eine eigene Stiftung gegründet und fördert freizeitpädagogische Angebote für Kinder wie zum Beispiel das CJD Berchtesgaden, ein Rehabilitatszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Asthma, Diabetes, Mukoviszidose und anderen chronischen Erkrankungen. „Wer Glück hat, sollte auch was davon weitergeben“, sagt Hilde Gerg. Eine Frau, die auch die schweren Seiten des Lebens kennt.
Elisabeth Schlammerl / Oktober 2021
Literatur zu Hilde Gerg:
Hilde Gerg: Der Slalom meines Lebens, Edel Sports 2021.