Bob
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Größte Erfolge als Sportler:
Größte Erfolge als Trainer:
*Olympia zählte gleichzeitig als WM
Nachdem Meinhard Nehmer 1973 von der Leichtathletik zum Bobsport wechselte, startet er 1976 in Innsbruck bei seinen ersten Olympischen Spielen.
Im Zweierbob (mit Bernhard Germeshausen) gewinnt er seinen ersten Olympia-Titel. Der zweite folgt nur einige Tage später im Viererbob.
Nach seiner aktiven Karriere wird Nehmer zunächst Nationaltrainer der USA. Unter seiner Leitung gewinnt Brian Shimer u.a. den Gesamtweltcup.
Die nächste Trainerstation: Italien. Dort führt er Günther Huber 1998 zum Zweier-Olympiasieg und 1999 zum Vierer-WM-Titel.
Zufall – ja oder nein? Manch Zeitgenosse möchte ja nicht wahrhaben, dass im Leben auch Dinge ohne Gesetzmäßigkeiten passieren. In deren Glaubenswelt basieren sämtliche Geschehnisse auf ursächliche Zusammenhänge. Egal, ob es sich um unvorhersehbare und unbeabsichtigte Ereignisse handelt. Zu jenen Spezies gehört Meinhard Nehmer nicht. Er glaubt an das Phänomen Zufall. Es hätte ihn als Bobfahrer sonst nie gegeben. Ergo auch nicht als Olympiasieger oder Weltmeister. Zweifel ausgeschlossen.
Einen plausiblen Grund gibt es jedenfalls nicht, dass ihm sein Wurftrainer dereinst beiläufig zuraunte: „Meinhard, fahr doch da mal hin, mach den Test mit.“ Es ist mehr ein launiger, halt zufälliger Spruch, als ein ernstgemeintes Ansinnen seines Übungsleiters. Im Klartext aber heißt dass, er soll nach Oberhof fahren. Sein Coach hatte einen Brief vom Armeesportklub (ASK) „Vorwärts“ aus dem Thüringischen bekommen. Darin stand von der Gründung einer Sektion Bobsport und der Suche nach geeigneten Athleten. Falls Interesse, bitte melden. Wir schreiben das Frühjahr 1973.
Auf gepackten Koffern sitzt Meinhard Nehmer ohnehin. Als Speerwerfer sucht er beim ASK in Potsdam seit langem vergeblich sein sportliches Glück. Er ist ambitioniert, gilt als Hoffnungsträger, träumt von Olympischen Spielen. Das Gerät schleudert er auf beachtliche 81,50 Meter. Er startet bei Länderkämpfen, sammelt Medaillen bei nationalen Meisterschaften. Doch der ganz große Wurf will nicht gelingen. Die rechte Schulter weigert sich, den hohen Belastungen standzuhalten. Immer wieder muckt sie auf, wirft ihn verletzungsbedingt zurück, bis er schweren Herzens ein Einsehen hat mit der Realität. Den Speer legt er schließlich aus der Hand. Traurig ist er, enttäuscht. Neunjähriges Mühen bleibt unbelohnt.
Sein zukünftiger Weg scheint vorgezeichnet. Er soll ihn mit Ehefrau Renate, einer Physiotherapeutin, den Kindern Kerstin und Markus - später kommt noch Franziska hinzu - nach Hause zurückführen. Nach Pommern, auf die Insel Rügen. Zum nördlichsten Zipfel der DDR, einen Steinwurf von Kap Arkona entfernt nach Varnkevitz. Sieben Grundstücke zählt das einsame Fleckchen in Nähe der imposanten Steilküsten. Auf einem dieser Gehöfte wohnen die Nehmers. Nach dem Krieg kommen sie als Umsiedler von Stettin dorthin. Sie verschreiben sich der Landwirtschaft. Nehmer Senior, hoch in die Siebzigern, wartet sehnsüchtig auf die Rückkehr seines kräftigen Filius’. Er hatte immer darauf gehofft, dass er eines Tages daheim die Regie übernimmt. Mit seinen 32 Jahren ist Meinhard reif dafür, jedenfalls mehr als für eine neue Karriere im Spitzensport.
Doch statt in den hohen Norden düst der Sohn gen Süden. Einfach mal schauen will er. Nur so. Bobfahren? Das klingt reizvoll, exotisch. In DDR-Breiten erst recht. Seit 1957 dürfen Formel-1-Piloten des Winters im Arbeiter- und Bauern-Staat international nicht mehr starten. Nach schweren Unfällen wird die Förderung eingestellt. Die restriktive Haltung der Sportoberen ändert sich erst, als unweit des Oberhofer Grenzadlers ein hochmodernes, künstlich vereistes Labyrinth in die Berglandschaft modelliert wird – gedacht zwar für die Rodler, die als Medaillengaranten gelten. Doch Berechnungen und statische Tests ergeben, dass sich die Betonschlange auch für schwere Bobgefährte eignet. Das Märchen, wie es die Brüder Grimm nicht schöner hätten schreiben können, nimmt seinen Ursprung - mit dem einen Unterschied, bei der Erzählung über Meinhard Nehmer handelt es sich um eine wahre Geschichte.
Als er im Spätherbst ’73 das erste Mal im Bob durch die Eisröhre rauscht, dominieren die Alpenländer das Geschehen weltweit. Die Männer aus der Schweiz, Italien, Österreich und der Bundesrepublik gelten als das Nonplusultra. Allen voran Wolfgang Zimmerer mit Anschieber Peter Utzschneider. Die Oberbayern aus Ohlstadt hatten im Jahr zuvor Olympiagold in Sapporo gewonnen. Sie sind die aktuellen Weltmeister. Zimmerer wird später über Nehmer sagen: „Er ist der beste Pilot, den ich im Bob gesehen habe.“
Der Gehuldigte verblüfft mit einem im Bobsport noch nie erlebten Wahnsinnstempo auf dem Weg zum Olymp. Zwei Winter reichen aus, um von Null auf Hundert durchzustarten. Weder vor noch nach ihm steuert ein Pilot in so kurzer Zeit in die Weltspitze. „Ich merkte schnell, dass ist mein Ding, die Geschwindigkeit, der Kurvendruck, ich fand’s toll“, sagt Nehmer, der sich als Draufgänger bezeichnet. „Normalerweise braucht man wenigstens vier, fünf Jahre, um ganz vorne dabei zu sein, doch Meinhard hat alle Theorien auf den Kopf gestellt“, schwärmt Eugenio Monti, zweimaliger Olympiasieger und neunmaliger Weltmeister. Der Südtiroler gehört zu jenen unfassbar Staunenden an der tückischen Natureisbahn in Cervinia, als die Bobnovizen aus der DDR mit Meinhard Nehmer an den Lenkseilen bei ihrer WM-Premiere im Winter 1975 mit dem Zweier Rang sechs und dem Vierer Platz fünf belegen.
Zwölf Monate später akzeptiert schließlich auch der letzte Skeptiker, welch außergewöhnlicher Pilot in den blauen Blitzen aus der GDR sitzt. Der ehrgeizige Senkrechtstarter von der Waterkant holt olympisches Gold in einer Sportart, die in den Bergen beheimatet ist. Mit Bernhard Germeshausen, einem ehemaligen Zehnkämpfer als Bremser, verbessert er zweimal den Bahnrekord. Sein Vorsprung nach vier Läufen auf die Zweitplatzierten Wolfgang Zimmerer und Manfred Schumann beträgt über eine halbe Sekunde. Das sind Welten, wo es doch normalerweise um Hundertstelsekunden geht. Ähnlich souverän siegt Nehmers Crew anschließend im Viererbob, angeschoben von Germeshausen, Jochen Babock und Bernhard Lehmann.
Genius, Phänomen, Außerirdischer – Meinhard Nehmers kometenhafter Aufstieg wird zum medialen Festival der Superlative. „Ein solcher Fahrer wird nur alle 50 Jahre geboren“, glorifiziert Anderl Ostler seinen Nachfolger als Doppel-Olympiasieger. Dem Vielgelobten sind die schmeichelhaften Attribute eher peinlich. Rummel um seine Person mag er ebenso wenig wie laute Töne. Auch wenn er gerne lacht und in bierseliger Runde mit so manchem Witz für Heiterkeit sorgt. Seine Meinung wird geschätzt. Er sagt sie auch, wenn andere lieber schweigen. Und er vergisst nicht, wem er was zu verdanken hat.
Der Vergötterte, der zur olympischen Eröffnungsfeier am 4. Februar 1976 die Fahne ins Bergiselstadion tragen durfte, was ihm heute noch feuchte Augen beschert, wenn er an diesen „einzigartigen Moment“ denkt, legt deshalb besonderen Wert darauf, seine Erfolge als Quintessenz mannschaftlicher Harmonie zu sehen. Bei der Zusammenstellung der Mannschaften geht es ihm nie darum, die Schnellsten hinter sich zu wissen. „Wichtig war mir, dass wir uns menschlich verstanden. Nicht unbedingt privat. Aber einer musste sich auf den anderen Hundertprozent verlassen können.“
Umgekehrt gilt natürlich das Gleiche. Wer beim Kapitän in den Bob steigen darf weiß, dass er nicht nur unversehrt ins Ziel kommt, sondern auch noch mit Edelmetall dekoriert wird. Oder aber mit denkwürdigen Zeiten für Furore sorgt. Wie beim WM-Sieg 1977 in St. Moritz, dem dritten von insgesamt vier. Mit Germeshausen, Hans-Jürgen Gerhardt und Raimund Bethge, dem späteren Bundestrainer, bleibt er als Erster auf der längsten Eisbahn der Welt unter 70 Sekunden. Playboy Gunter Sachs als Präsident des regionalen Bobverbandes spendiert Champagner im Magnumformat.
Bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid hält nur einer möglich, dass ein Viererbob auf der gefährlichen Kunsteispiste am Mt. Van Hoevenberg unter einer Minute bleiben kann. Natürlich ist dieser eine Meinhard Nehmer – inzwischen 39 Jahre und 41 Tage alt. Bei seinem dritten Olympiasieg mit Germeshausen, Gerhardt und Bogdan Musiol bleibt er gleich zweimal unter dem magischen Zeitlimit. Es ist sein „wertvollster Triumph“, glaubt er doch nach dem grandiosen Olympiadebüt nicht daran, noch einmal vier Jahre durchstehen zu können. Der Körper zwickt, die Ärzte raten zum Aufhören, er aber beißt die Zähne zusammen.
Mit bewundernswerter Gelassenheit, Abgeklärtheit, Gleichmütigkeit, wie man auch will, meistert Meinhard Nehmer seine Herausforderungen. Im größten Stress bleibt er kühl wie ein Eisblock. Als Speerwerfer ist es sein Nachteil, nicht aus der Haut fahren zu können. Als Bobfahrer profitiert er von dieser göttlichen Gabe. Er verzieht nie eine Miene. Stets wirkt er so entspannt wie beim Hören seiner Lieblingsopern. Allerdings bekommt er „vor dem Start großer Wettkämpfe immer eine Gänsehaut. Doch wenn ich im Bob saß, war alles ringsherum vergessen.“ Zwischen den Läufen, wenn sich andere warm machen oder noch einmal Hand anlegen am Gerät, nickt er sogar im Starthaus ein. Die Rivalen können nicht fassen, was sie sehen. Deren Nerven liegen blank, wie Wolfgang Zimmerer gesteht: „Meinhard saß in der Ecke, ruhte ab bis er wieder dran war. Unglaublich.“
Meinhard Nehmer ist aber nicht nur die Ruhe in Person. Er gilt als mustergültiger Trainierer, erzählt Horst Hörnlein. Der Olympiasieger von 1972 und Weltmeister 1973 im Rodeln zusammen mit Reinhard Bredow agiert als Cheftrainer der ersten Stunde. Rasch erkennt der Thüringer die ausgeprägte Feinmotorik, die sein Schützling neben seiner erstaunlichen Athletik besitzt. Sein Credo als Perfektionist lebt dieser Nehmer bis ins kleinste Detail aus. An seine Eisenschweine, wie er die Bobs gerne bezeichnet, lässt der leidenschaftliche Tüftler nur selten jemand ran. Schon gar nicht, wenn es um die Einstellung der Fahrspur oder anderer Feinheiten geht. Verantwortung zu delegieren, war nie sein Ding.
Meinhard Nehmer kennt es nicht anders, als mit seinen fleischigen Händen selbst anzupacken. Nicht nur als Sportler. Auch als Landwirt, Wetterdiensttechniker, Ingenieur für Landmaschinentechnik oder Fregattenkapitän. Dass er trotz seiner Berufsvielfalt eines Tages arbeitslos werden würde, kommt ihm nie in den Sinn. Als die Mauer ’89 fällt, trifft es aber auch ihn – den einst umjubelten Sportstar. Drei Monate vor seinem 50. Geburtstag wird er bei der Bundeswehr als Marineoffizier ausgemustert. Sein Teilanspruch auf Rente entfällt. Auch sein Job als Testfahrer, den er seit seinem Rücktritt nebenbei ausübt, ist im vereinten Bob-Deutschland nicht gefragt.
Wieder daheim in Varnkevitz wird er nicht mehr gebraucht. „Dabei“, so sagt der Verprellte, „gibt es nichts Schöneres, als hier oben die Meeresluft zu atmen, über die Felder zu streifen, auf Pirsch zu gehen oder sein Glück beim Angeln zu suchen.“ Aber ohne sicheren Arbeitsplatz in seinem Alter nutzt einem auch das schönste Zuhause nichts. Die Erkenntnis schmerzt.
Nie wieder, schwört er sich, möchte er die Koffer packen, zehntausende Kilometer bei Schnee und Eis durch die Weltgeschichte touren. Doch als Erwerbsloser gehorcht er der Not, als ihm der US-Bobverband ein Angebot als Cheftrainer unterbreitet. Im Winter '91 steht er wieder an den Eisrinnen. Die Erfolgsgeschichte findet ihre Fortsetzung – nun als Coach. Englisch spricht er nicht, dafür weiß er bestens, wie Sportler ticken, vermag sein fahrerisches Knowhow so zu vermitteln, dass es beim Zuhörer ins Blut übergeht. Die Medaillengewinne beweisen es. Erst mit den Amerikanern, dann mit den Italienern. Meinhard Nehmer wird zum Franz Beckenbauer des Bobsports. Nach den eigenen Olympiasiegen führt er Günther Huber und Antonio Tartaglia 1998 in Nagano in die Goldspur.
Seinem Freund Raimund Bethge verdankt es der unfreiwillige Weltenbummler, dass er zur Jahrtausendwende noch einmal dorthin zurückkehrt, wo er richtigerweise hingehört - ins deutsche Team. Ein echter Volltreffer! In seiner Ära als Bahntrainer werden neun von zwölf Weltmeistertiteln geholt. Fünf der sechs Olympiasiege bei den Winterspiele 2002 und 2006 gehen an deutsche Piloten. Drei davon an André Lange. Zufall? Natürlich nicht, wenn Meinhard Nehmer das Sagen hat. Am Eiskanal in Cesana bei Turin zum letzten Mal. Seitdem wohnt er dort, wo er immer mit der Familie leben wollte. Zurückgezogen, mittlerweile ergraut, aber glücklich und zufrieden.
Gunnar Meinhardt, Juli 2016
Literatur zu Meinhard Nehmer:
Sportverlag: „erlebt – erzählt“, Berlin 1977