Turnen
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Sie wähnten sich in einem antiken Amphitheater. Eine gewaltige Menge, 20.000 Menschen, schaute am 11. und 12. August 1936 im gewaltigen Halbrund zu, als Athleten aus 14 Nationen in der Dietrich-Eckart-Bühne ihre Übungen auf dem Boden, am Seitpferd, am Pferd, an den Ringen und am Barren vollführten. Krönender Abschluss der olympischen Wettbewerbe im Männerturnen: die Kür am Reck. „Wohl noch nie“, resümierte ein Zeitzeuge, „wurde ein Endkampf unter so dramatischen und spannenden Umständen gezeigt“.
Unerreicht an diesem Gerät: die Finnen. Angeführt von Aleksanteri Saarvala, überragten sie mit Adlerschwüngen, Riesenfelgen in vielen Varianten, vorwärts und rückwärts gesprungenen Salti und Doppelsalti. Die Entscheidung in luftigen Höhen – inzwischen dämmerte es –brachte jedoch ein Deutscher: Alfred Schwarzmann aus Fürth, 24 Jahre alt, der deutsche Zehnkampf-Meister des Jahres 1934. „Ich kam als letzter an die Reihe und machte meine Reckübung im Scheinwerferlicht“, berichtete der Turner später über die „unvergesslichsten Tage meines Lebens“.
Immens war der Druck, standen doch nicht nur die Medaillen am Reck auf dem Spiel. Es ging auch um den Erfolg im Mehrkampf. Die Gastgeber führten in dieser Wertung, die alle Einzeldisziplinen zusammennahm, in der Mannschaft knapp vor der Schweiz. Auch im Einzel lag Schwarzmann knapp vor dem Eidgenossen Eugen Mack. Nicht alle hielten den Erwartungen stand. Der Reckweltmeister von 1934, Ernst Winter, stürzte nach einem Fehlgriff zu Boden. Schwarzmann, der mit 1,60 Meter Körpergröße ideale Voraussetzungen mitbrachte, turnte jedoch seine Übung trotz aller Anspannung „mit eiserner Kampfruhe“, wie die Experten rühmten, zu einem guten Ende.
Dafür wurde Schwarzmann am Reck mit Bronze dekoriert, wie schon zuvor am Barren. Eine Goldmedaille am Pferdsprung hatte er unter dem Jubel der deutschen Fans bereits am Ende des ersten Wettkampftages errungen. Und als die Punkte im olympischen Zwölfkampf aufaddiert waren, stand fest: Schwarzmann wurde auch hier mit Gold in der Mannschaft und im Einzel dekoriert. Mit dieser sagenhaften Bilanz von dreimal Gold und zweimal Bronze war er hinter dem US-Sprinter Jesse Owens der zweiterfolgreichste Sportler bei den XI. Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin.
Entsprechend groß war die Resonanz. Die Medien feierten ihn. Reichskanzler Adolf Hitler beförderte den Soldaten auf der Stelle zum Leutnant. Und auch die Fans belagerten nun die Olympioniken, obwohl die Riege nach ihrem erfolgreichen Wettkampf gern Ruhe gehabt hätte, wie sich Schwarzmann 1948 in einem Text für den SPIEGEL erinnerte. „Das Schönste war, dass keiner dem anderen seinen Sieg neidete. Aber die Autogrammjäger verfolgten uns bis in den Duschraum. Damen, die wir nie gesehen hatten, wollten uns plötzlich zum Tee einladen.“
Diese Zukunft als Olympiasieger hatte sein Vater nicht in ihm gesehen, als der Junge im Fränkischen aufwuchs, vielmehr einen Nachfolger für seine Bäckerei. Am 23. März 1912 in Fürth geboren, absolvierte Schwarzmann eine Lehre als Konditor, trat aber am 1. April 1933 in die Reichswehr ein und verpflichtete sich für zwölf Jahre als Berufssoldat. Zu diesem Zeitpunkt war noch offen, ob die neuen NS-Machthaber sich für den Sport interessieren würden. Aber als Hitler und Propagandaminister Goebbels im Sommer 1933 in den Olympischen Spielen 1936 in Berlin eine politische Bühne für ihre Sache erblickten, war auch der Turner Schwarzmann ein Nutznießer.
Im TV 60 Fürth, in dem sein Vater viele Jahre als Oberturnwart tätig war, war er in der Jugend vielseitig ausgebildet worden, im Schwimmen, im Fußball, in der Leichtathletik und auch beim Krafttraining. Erst im Jahre 1926, als 14-Jähriger, konzentrierte er sich auf das Turnen und kam auf regionalen Turnfesten bald zu Erfolgen. Seine Grundausbildung im 21. Infanterie-Regiment Fürth sowie seine Anwärterprüfung zum Unteroffizier verhinderten indes seine Teilnahme an den Weltmeisterschaften 1934.
Da ihn aber der Trainer Christel Strauch an der Heeressportschule in Wünsdorf unter seine Fittiche nahm, stürmte Schwarzmann an die nationale Spitze: Er siegte sowohl bei den Kampfspielen 1934 in Breslau als auch bei den Deutschen Meisterschaften im Mehrkampf. Als Soldat profitierte Schwarzmann jedenfalls sehr von den staatlichen Strukturen, mit denen das NS-Regime seine Sportler auf Berlin 1936 trimmte. Seine fünf Olympia-Medaillen waren auch das Sprungbrett für ein Studium an der Reichsakademie für Leibesübungen. Als Schwarzmann 1938 als Leutnant der Reserve aus dem Dienst ausschied, verdiente er sein Geld als Heeressportlehrer.
Bereits 1938 propagierte die Wehrmacht den Turn-Olympiasieger als Ideal eines Sportsoldaten, nachdem er drei weitere Meistertitel (im Zwölfkampf, am Reck und am Pferdsprung) gewonnen hatte. Im Zweiten Weltkrieg, den er bei den Fallschirmjägern erlebte, wurde er nun zur Projektionsfigur eines durch den Sport gestählten Soldaten. Insbesondere sein Einsatz beim Überfall auf die Niederlande im Mai 1940, bei dem er am Kampf um die Moerdijk-Brücken beteiligt war, wurde vom NS-Regime überhöht und publizistisch ausgeschlachtet.
Hitler persönlich verlieh Schwarzmann, der durch einen Lungendurchschuss und eine Armverletzung schwer verwundet war, das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, einen der höchsten militärischen Orden. Die Erzählung, der niederländische Eisschnellläufer Simon Heiden habe ihm bei dem Einsatz nahe Rotterdam das Leben gerettet, bestritt Heiden später. Aber der Sportfunktionär Carl Diem feierte Schwarzmann nun im Reichssportblatt vom 25. Juni 1940 als „Symbol für das junge Geschlecht“. Und als Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten im März 1941 in einer Grundsatzrede in Prag erklärte, dass Siege am Turngerät nicht dem Selbstzweck dienten, sondern „in höherem Sinne Dienst am Vaterland“ sei, nannte er den Ritterkreuzträger Schwarzmann als leuchtendes Beispiel für die „leibeserzieherische Vollendung“ eines NS-Sportsoldaten.
Als Fallschirmjäger überlebte Schwarzmann auch die Besetzung Kretas im Juni 1941. Doch am Ende des Krieges kritisierten seine Vorgesetzten, er verfüge nicht mehr über den Wagemut früherer Operationen. „Scheint seit einiger Zeit nicht mehr den Einsatzwillen von früher zu besitzen“, heißt es in einer Kriegs-Beurteilung vom 1. August 1944. Gleichwohl wurde er noch am 20. März 1945, sieben Wochen vor dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, zum Major der Reserve befördert.
Nach dem Krieg verschlug es Schwarzmann in den Harz, nach Goslar. Da er nie Parteimitglied gewesen war, erhielt er dort problemlos eine Stelle als Sportlehrer. Und er turnte weiter, selbst nach einem komplizierten Beinbruch im Jahr 1948. Aus heutiger Sicht irritiert es, wenn er während der Olympischen Spiele 1948 in London im SPIEGEL den Ausschluss deutscher Sportler scharf kritisierte. „Wer Sport und Politik zu verquicken sucht, kann selbst nicht viel echten Sportsgeist haben“, schrieb der Mann, der selbst sportpolitisch von den Nazis instrumentalisiert worden war wie sonst nur Max Schmeling und Rudolf Harbig. Empathie für diejenigen Sportlerinnen und Sportler, die die Spiele verpassten, weil sie von den Nazis ermordet oder in die Flucht geschlagen worden waren, äußerte er nicht.
Als Schwarzmann dennoch vom kicker 1999 zu „Deutschlands Turner des 20. Jahrhunderts“ gewählt wurde, spielte sein sagenhaftes Comeback bei den Olympischen Spielen 1952 eine Rolle. In Helsinki gewann Schwarzmann, inzwischen 40 Jahre alt, am Reck eine Silbermedaille – die nach Ansicht von Fachleuten eigentlich hätte vergoldet sein müssen. Die Jury habe bei der Bewertung der Kür Schwarzmanns bewusst die Kombination komplizierter Übungsteile ignoriert, um einen deutschen Olympiasieger zu verhindern, urteilt die Turnhistorikerin Swantje Scharenberg. Selbst der Schweizer Olympiasieger Jack Günthardt befand, „dass der Sieg eigentlich Alfred gebührte – aber er war eben Deutscher“.
Nach den Spielen 1952 in Helsinki beendete Schwarzmann seine Karriere als Leistungsturner und forderte innovative, kreative Elemente. „Ich meine, man sollte in die Kür ruhig etwas Neues hineinbauen, das Konservative abschütteln und mit neuen Ideen überraschen.“ In seiner eigenen Bilanz legte Schwarzmann, der am 11. März 2000 in Goslar starb, nun neue Schwerpunkte, da er nach dem Krieg unter völlig anderen Umständen trainiert hatte als vor Berlin. Nicht die Erfolge im Jahre 1936 betrachtete er nun als höchste Auszeichnung, sondern das olympische Silber 1952.
Erik Eggers, Dezember 2024
Quellen und Literatur zu Alfred Schwarzmann:
Militärarchiv Freiburg, PERS 6_179543 (Personalakte Alfred Schwarzmann)
Reichssportblatt, Jg. 1940
Gustav Adolf Bült: Der Welterfolg des deutschen Turnens. In: Cigaretten-Bilderdienst Hamburg-Bahrenfeld (Hrsg.): Die Olympischen Spiele 1936 (Bd. 2, S. 135-139). Hamburg 1936
o. Verf.: Die deutschen Leibesübungen nach dem Krieg. In: Stuttgarter Neues Tagblatt vom 24. März 1941
Swantje Scharenberg: Der Fürther Jahrhundertturner. Alfred Schwarzmann zu seinem 100. Geburtstag. In: Fürther Geschichtsblätter Heft 4, S. 99-121, 2012
Schwarzmann, Alfred: Eine SPIEGEL-Seite für Alfred Schwarzmann. Der SPIEGEL vom 30. Juli 1948