Reitsport
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In der Epoche, in der Alwin Schockemöhle seine Erfolge als Springreiter errang, waren die Menschen hierzulande noch nicht so zart besaitet wie heute. Die Pferde lebten ein rustikaleres Leben, sie waren Nutztiere, keine Schoßtiere, die Barr-Affäre der achtziger Jahre war noch weit entfernt und die Erziehung der Tiere so effektiv, wie man das damals für sinnvoll hielt. Von Alwin Schockemöhle aber, der 1960 in Rom mit 23 Jahren Olympiasieger mit der Mannschaft und 1976 in Montreal in der Einzelwertung wurde, ist ein Satz überliefert, der über all die vergangenen Jahrzehnte hinweg Gültigkeit behalten hat. Über Pferde sagte er: „Sie wollen gleichrangig behandelt werden, sie unterwerfen sich dem Menschen nicht. Haben sie Vertrauen gefasst, überlassen sie ihm die Führungsrolle gerne.“
Dass ein Pferdemann mit dieser Überzeugung so viel Erfolg hatte, war eine gute Nachricht für alle Pferde im Sport. Alwin Schockemöhles Art und Weise, seine Pferde zu trainieren und locker zu machen, wird heute noch manchmal als leuchtendes Beispiel herangezogen. Und sein Umgang mit Schlaufzügeln, die in den falschen Händen auch zum Zwangsmittel werden können, gilt bis heute als vorbildlich und wird immer wieder gegen eine pauschale Verurteilung der „Rollkur“ genannten tiefen Einstellung ins Feld geführt. Gefühl für die Pferde, kombiniert mit nüchternem Können und pragmatischem Durchsetzungsvermögen – das ergab den Erfolg. Und natürlich ist auch der genialste Reiter ein Niemand ohne die richtigen Pferde. Mit Warwick Rex, einem Hannoveranerwallach, der nicht besonders schön, aber ungeheuer sprunggewaltig war, errang er seine größten Triumphe: Gold und Silber in Montreal 1976 und ein Jahr zuvor den Europameistertitel mit der Mannschaft und in der Einzelwertung. Schon 1960 in Rom hatte er auf Ferdl die olympische Mannschafts-Goldmedaille mitgewonnen, 1968 in Mexiko errang er mit der Mannschaft Bronze, das Pferd damals war Donald Rex. Auch seine drei Siege beim Deutschen Springderby in Hamburg-Klein Flottbek stehen in den reiterlichen Geschichtsbüchern. Schockemöhle war viermal deutscher Meister der Springreiter, gewann bei 50 Starts 27 Nationenpreise mit der deutschen Mannschaft und siegte 65 Mal bei Großen Preisen auf internationalen Turnieren. Und noch einen Titel hat Alwin Schockemöhle in seiner Sammlung: 1976 wurde er zum Krawattenmann des Jahres gewählt, in der Nachfolge unter anderen des damals höchst beliebten Showmasters Hans-Joachim Kulenkampff.
Im Internet kann man Alwin Schockemöhles zweite Runde im Einzelwettbewerb von Bromont nahe Montreal immer noch bewundern: Der Boden ist nach Regenfällen schwer, die Hindernisse sind imposant, doch Warwick Rex meistert sie mit gelassener Kraft. „Konzentration, Position, Perfektion“ – so beschrieb damals der kanadische Fernsehkommentator Alwin Schockemöhles zentrale Stärken. Ohne einen Hindernisfehler gewann er das Gold, obwohl die Parcoursgestaltung vor allem im ersten Umlauf einen der deutschen Fachreporter von damals, Dieter Ludwig, zutiefst empörte. „Was der kanadische Parcourschef damals in die Arena stellen ließ, hätte in jetziger Zeit die Tierschützer zu einer Demonstration gezwungen“, schrieb er noch vor ein paar Jahren. In der ersten Runde mussten neun Oxer überwunden werden, von denen vier eine Tiefe von 2 Meter aufwiesen, einer war sogar 2,10 Meter tief, und der Schlussoxer sogar 2,20 Meter. Fünf Oxer mit jeweils 2 Meter Tiefe waren immerhin noch in der zweiten Runde zu springen, dazu ein ausladender Wassergraben. Viele Reiter stürzten. „Nie mehr“, schrieb Ludwig, „durfte sich später ein Parcoursgestalter bei Olympia derart hemmungslos und ungestraft am Reitsport vergehen.“ Alwin Schockemöhle und Warwick Rex aber gelang eine Runde voller Kraft, Geistesgegenwart und Harmonie.
Zusammen mit seinem Bruder Paul saß er kurz darauf in einer Kutsche, mit der die beiden im Triumphzug durch Mühlen, ihr niedersächsisches Zuhause, gefahren wurden. Auch Paul wurde gefeiert, der auch zur Mannschaft von Montreal gehörte, aber mit einer unrühmlichen Beruhigungsspritze für sein Pferd Talisman schon damals die Szene polarisiert hatte. Ob zu recht oder nicht, galt in diesem Brudervergleich Alwin als der Untadelige, Paul als derjenige, der seinen Erfolg im Sattel erzwingen muss. In Mühlen, auf dem uralten Hof der Familie, wuchsen die beiden auf. Dass Alwin, der acht Jahre Ältere und legitime Hof-Erbe, der Liebling des Vaters Aloys war, hat Pauls Ehrgeiz sehr angestachelt. Während Alwin Reitunterricht erhielt, musste sich Paul die Kunst im Sattel selbst beibringen. Dass er zwar dreimal Europameister, aber nicht wie Alwin Olympiasieger wurde, wurmte ihn über viele Jahre. Im Geschäftsleben allerdings standen sie einander nicht nach. Schon im zarten Jugendalter zogen sie – genau wie der dritte, schon im Jahr 2000 verstorbene mittlere Bruder Werner, der Rechtsanwalt wurde - verschiedene Unternehmen auf, handelten mit Schulbüchern und Hühnereiern (Paul), Enteneiern (Werner) und Keksen (Alwin) und brachten es später alle drei zu beachtlichem Reichtum. Bei dieser Geschäftstüchtigkeit ist es wenig verwunderlich, dass Alwins bestes Pferd Warwick Rex nicht etwa wegen seiner königlichen Eigenschaften so benannt wurde. Der Namenszusatz Rex, der in vielen Namen seiner Pferde auftaucht, steht für ein Waschmittel. Sein einstiger Schwiegervater und Mäzen war der Waschmittelfabrikant Otto Schulte-Frohlinde.
Ein Jahr nach seinem Olympiasieg sah sich Alwin Schockemöhle gezwungen, seine Laufbahn als Springreiter zu beenden. Mit 40 Jahren mag man in anderen Sportarten alt sein – die Reiterei erlaubt eigentlich eine erheblich längere Laufbahn. Aber Schockemöhle musste damals bereits mit starken Schmerzen leben. Ein gespaltener Rückenwirbel quälte ihn, so dass er beim CHIO in Aachen seine Abschiedsrunde drehte. Traditionell winken die Aachener Zuschauer am letzten Turniertag den Teilnehmern mit Taschentüchern zu. In jenem traurigen Moment galt das Winken ganz ihm. Zu jenem Zeitpunkt war seine Gesundheit durch Stürze bereits erheblich beschädigt. Schockemöhle leidet bis heute an schweren Problemen mit Rücken- und Halswirbeln, er wurde dreimal an den Bandscheiben operiert, auch am Handgelenk und am Arm waren chirurgische Eingriffe nötig, dazu hat er ein Hüftleiden. Mit den Jahren haben ihm die Gesundheitsprobleme das Leben mehr und mehr verleidet.
Schockemöhles Freude an den Pferden war mit dem Abschied vom Springsattel natürlich nicht zu Ende. Er bildete junge Springreiter aus, die sich später große Namen machten wie etwa Franke Sloothaak, der ursprünglich aus den Niederlanden kam und 1994 für Deutschland Weltmeister wurde. Auch die Laufbahn von Gerd Wiltfang, Mannschafts-Olympiasieger von 1972 und Weltmeister 1978, ist mit Alwin Schockemöhle verbunden. Und Ulrich Kirchhoff, Doppel-Olympiasieger von Atlanta 1996 gehört ebenso zu Schockemöhles Zöglingen. Seine Tätigkeit für den deutschen Verband in Warendorf endete aber rasch wieder – und nicht unbedingt harmonisch.
Weil er nicht mehr reiten konnte, begann Alwin Schockemöhle, sich in einer Disziplin zu engagieren, in der man den Stoßkräften der Pferdebewegung nicht mehr ausgesetzt ist – dem Trabrennsport. Hier sitzt man nicht im Sattel, sondern im Sulky. Sein Erfolgsrezept galt auch hier: Talent allein genügt nicht, wenn man nicht ständig hart an sich arbeitet. Am Anfang zahlte er drauf, aber dann wirkte es: Alwin Schockemöhle mischte die Szene auf, ja, er verbitterte sie phasenweise sogar. Er gewann fünfmal das Traber-Derby in Deutschland und einmal in Italien. Und dann die Krönung: Sein Hengst Abano As siegte 2003 mit dem Belgier Jos Verbeek im Sulky beim Prix d’Amérique in Paris. Mehr kann ein Züchter von Trabern sich nicht erträumen: Dass sein eigenes Produkt das bedeutendste Rennen gewinnt. Und noch ein weiterer Hengst aus seinem Stall machte Furore: Diamond Way gilt als der erfolgreichste Erzeuger schneller Trabrennpferde Europas. Dieser Hengst wurde 1985 zum „Traber des Jahres“ gewählt. Every Way lag bei der Wahl im folgenden Jahr vorne, 1987 wurde Toppino gewählt, 2000 Abano As. Viele seiner Pferde stehen in der ewigen Bestenliste der gewinnreichsten deutschen Traber ganz vorne. Allen voran Abano As, gefolgt von Freiherr As und Campo Ass, die drei gewinnreichsten deutschen Traber aller Zeiten.
Alwin Schockemöhle hat viel Gutes von zuhause mitbekommen: Die Leidenschaft für Pferde, die nicht nur beglückende, sondern auch einträgliche Fähigkeit, ein talentiertes Pferd schon im zarten Alter zu erkennen, und die gesunde Nase für ein lukratives Geschäft. „Der Alwin“, sagte einst die Reiterlegende Fritz Thiedemann, „erkennt sogar im Dunkeln ein gutes Pferd.“ Doch er hatte nicht nur Glück. Ein brutaler Überfall in seinem Reetdach-Haus in Mühlen kurz vor seinem 65. Geburtstag hat ihn nachhaltig schockiert und seine Lebensfreude getrübt. „Ich bin fix und fertig“, sagte er damals. „Wenn einem ein Messer an den Hals gehalten wird und einer schreit: Du gleich tot, hat man Todesangst.“ Vier Männer drangen nachts um zwei Uhr in das Haus in Mühlen ein, beschimpften und bedrohten das Ehepaar massiv, schlugen den Hausherren und bedrohten ihn mit einer Bohrmaschine – eine Stunde lang waren die beiden in der Gewalt der Räuber. Diese stahlen Schmuck und Bargeld und ließen ihre Opfer gefesselt zurück. Die Verbrecher wurden nie gefasst. Nach diesem Schock zog sich Alwin Schockemöhle immer mehr zurück, sein Haus ließ er mit allen erdenklichen Sicherungseinrichtungen ausstatten.
Sie mögen ein Leben lang Rivalen gewesen sein – aber ihre Ähnlichkeiten sind groß. Genau wie sein Bruder Paul ist Alwin ein großer Tüftler, was die ausgeklügelte, pferdegerechte und gleichzeitig effektive Haltung und das Training von Pferden betrifft. Alwin erfand die Führanlage, wie sie heute allenthalben in Betrieb ist – die Pferde bewegen sich in einem Karussell mit Motor-Antrieb, was den Pflegern viel Arbeit erspart. Als seine Frau sich die Haare föhnte, kam er auf die Idee, ein großes Trocknungsgebläse für Pferde zu bauen. Auf seinem 70 Hektar großen Gelände errichtete er 1989 die größte überdachte Trabrennbahn der Welt mit 1050 Meter länge, um Pferde trocken und ohne Mücken trainieren zu können. „Menschen arbeiten auch nicht gern im Regen“, sagte er. „Warum dann Pferde?“
Evi Simeoni, Juli 2016