Fußball
Fußball
Diese Geschichte handelt von einer Szene, die nicht länger als vier oder fünf Sekunden gedauert haben mag – sie handelt von einem Länderspiel der Italiener gegen die Deutschen am 28. April 1929 in Turin. Man kann die Szene nicht schildern, ohne an den Radioreporter Dr. Paul Laven zu erinnern: Zum ersten Mal wurde ein Fußball-Länderspiel übertragen im Rundfunk, und Laven beschrieb diese eine Szene mit einer Leidenschaft, als würde davon das Ergebnis des Spieles abhängen. Solche Geschichten brauchen immer einen Helden – dieser hieß Heiner Stuhlfauth und war ein Torwart.
„Die Italiener waren in den ersten Minuten durch Rosetti, den Halblinken, in Führung gegangen. Hornauer hatte nach Flanke ‚Wiggerl’ Hofmanns den Ball vom Rechtsaußen Albrecht zugespielt bekommen und mit flachem Schuss den Ausgleich erzielt. Dann begann der Hexensabbat, der Ansturm auf das deutsche Tor, in dem der Sebalduswirt aus Nürnberg stand. Der Augenblick zum Führungstreffer für Italien schien gekommen. Schiavio war nach einem Zweikampf mit Leinberger Sieger geblieben. Ein Haufen von ‚Azurri’ stand dicht vor Stuhlfauths Tor, der Heiner trug, wie gewohnt, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Ein wuchtiger Schuss Schiavios krachte von seinen abwehrenden Fäusten zurück. Aber Conti sauste heran, hatte den Ball vor den Füßen. Die deutschen Verteidiger Baier und Weber wussten, überlastet, schon nicht mehr wohin sie laufen sollten. Contis Nachschuss kam hart und placiert. Stuhlfauth stürzte sich in die Ecke und schlug den Ball, sich streckend, aus dem Winkel heraus. Aber da war Rivolta, der breitschultrige, einer der schussgewaltigsten Stürmer Italiens, am hüpfenden Ball. Sofort nahm er ‚volley’ im ‚dropkick’ wie man so sagt. Wie aus dem Rohr geschossen sauste die Kugel in die andere Ecke. Und Stuhlfauth, der große Nürnberger Torwart, machte instinktsicher und stählern hinüberschnellend eine Abwehrbewegung. Er hatte im Auge des italienischen Schützen Ansatz und Richtung des Schusses erspäht. Stuhlfauth im grauen Wams stieß den Ball mit der äußersten Spitze seiner Finger aus der entgegengesetzten Ecke heraus. Es gab Eckball für Italien.“
Es gibt keine Schilderung des Nürnberger Torwarts Stuhlfauth ohne diese Szene. Er war in den zwanziger Jahren bei 21 Länderspielen dabei und vollbrachte sicherlich noch andere große Taten. Aber die deutsche Nationalmannschaft hat seither nie wieder in Italien gewinnen können. Allein dieser Umstand hätte wahrscheinlich ausgereicht, ihn zu einer Kultfigur werden zu lassen. Es hat hierzulande bis in die Gegenwart immer schon große Torhüter gegeben, aber dieser Heiner Stuhlfauth gehörte zu den Besten – es gab Zeitgenossen, die ihn für den Besten hielten. Er wurde mit dem 1. FC Nürnberg fünfmal deutscher Meister und musste dabei in den Finals kein einziges Gegentor hinnehmen.
Er war ein Straßenkicker und vierzehn Jahre alt, als man ihn beim FC Franken mitspielen ließ – als halblinken Stürmer. Er wechselte zum FC Pfeil, der damals die dritte Kraft neben dem „Club“ und der Spielvereinigung Fürth war. Beim FC Pfeil fehlte ein Torwart, und weil der Neue groß und stark war, stellte man ihn zwischen die Pfosten. Als der Verein sich während des Krieges 1915 auflöste, nahm er ein Angebot des 1. FC Nürnberg an. Das war schon fast so etwas wie ein Ritterschlag, wenn da nicht der Gestellungsbefehl gewesen wäre, der ihn zum Dienst für das Vaterland rief. Aber der Arm des Fußballclubs war offensichtlich länger als der des Kaisers: Stuhlfauth landete zunächst bei den Ingenieuren in Ingolstadt und erhielt dann genügend Zeit zum Training für die Armee-Auswahl.
Dann die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen hastig Versäumtes nachzuholen versuchen. Das Leben gerät in neue Bahnen – große Filme, schillernde Revuen, Operetten, Kabarett. Zu den kreativen Kräften gehört auch der Sport, der die alten Formen sprengt. Das Fußballspiel überschreitet die Grenze von der unschuldigen Kickerei zur Massenunterhaltung. Die Zuschauerzahlen verzehnfachen sich. Bei dem Spiel gegen die Italiener in Turin stehen und sitzen auf den Tribünen 20.000 Menschen. Die Medien entdecken Symbol- und Spannungsgehalt der Vorgänge auf dem Rasen oder auf den Sportplätzen. Dass diese Tatsachen einige Jahre später in Berlin bei den Olympischen Spielen für eine gefährliche Propaganda ausgenutzt werden, ist den Sportlern nicht vorzuwerfen. Unter ihnen waren die ersten Helden – Heiner Stuhlfauth stand an der Spitze einer Ahnen-Gallerie. An seiner hohen Gestalt sind die neuen Formen des Fußballspiels festzumachen. Er wurde zu einem Leitbild und es war kein Wunder, dass sich die herrschende Nazi-Partei seiner Popularität bediente. In der Stadt der Reichsparteitage wollte man auf den berühmten Stuhlfauth nicht verzichten. Die Aufforderungen wurden 1937 – im nacholympischen Jahr – bei vielen Sportlern immer dringlicher, und der ehemalige Torwart gab als Beruf Sportlehrer an, schließlich betrieb er eine Kneipe. Er erhielt die Aufnahme-Nummer 4856731 in der NSDAP und die große Fußball-Laufbahn war längst vorbei.
Er wurde auch zum Wirt der „Sebaldus-Klause“ und vermochte sich so die Zeit für ein ernsthaftes Training zu erlauben. Von dem Geld, das von den Zuschauern in die Hände der Spieler floss, redete man nicht – schließlich gab es offiziell keine Professionals im Fußball. Aber die Spieler hatten begriffen, dass sie auch Darsteller sind. Die Begriffe, die grundsätzlich noch heute gültig sind, wurden damals geschaffen, und Stuhlfauth, der für den Erfolg stand, gehörte zu den ersten Stars. An seiner Kraft, seinem Mut und seiner Geschicklichkeit scheiterten die Gegner – und dabei waren durchaus nicht nur die Konkurrenten aus anderen Ländern gemeint. In den Spielen der Nürnberger gegen die Nachbarn aus Fürth war damals nicht viel zu spüren von der Freundschaft durch den Sport. Die Zuschauer prügelten, die Spieler traten. Wenn Nürnberger und Fürther gemeinsam zu einem Länderspiel reisten, setzten sie sich in getrennte Eisenbahn-Wagen.
Heiner Stuhlfauth ließ die ersten Legenden erblühen und die „Sebaldus-Klause“ war ein sehr guter Ort, solche Legenden zu erfinden oder wenigstens weiter zu entwickeln. Eine der Legenden erzählt von dem Endspiel 1922 um die deutsche Meisterschaft in Berlin zwischen den Nürnbergern und dem Hamburger SV. Es stand 2:2, Schiedsrichter Peco Bauwens, der spätere Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, fiel vor Erschöpfung um – keine Entscheidung. Das Spiel wurde wegen Dunkelheit abgebrochen. Sieben Wochen später gab es eine Wiederholung in Leipzig – am Schluss stand es 1:1 und die Nürnberger hatten nur noch sieben Spieler auf dem Platz. Schließlich haben die Funktionäre ein Einsehen: 1922 gab es keinen deutschen Meister.
Stuhlfauth gewann dem Fußballspiel neue Formen ab, die auch zu neuen Inhalten führten. Er kreierte den Torwart-Verteidiger, der viele Jahrzehnte später als eine neue Erfindung auf der Position als letzter Mann angesehen wurde. Stuhlfauths ungewöhnlicher Instinkt für die Entwicklung einer Szene erlaubte es ihm, das Tor zu verlassen und die Stürmer mit dem Fuß vom Ball zu trennen, noch bevor die Situation gefährlicher wurde.
1930 spielte er zum letzten Mal in der Nationalelf, im gleichen Jahr gab er auch seine Position beim 1. FC Nürnberg auf. Er arbeitete kurz als Trainer, aber das war nicht mehr seine Welt. In der Altstadt seiner Heimat erzählte er seinen Gästen lieber, wie das damals war, als die Deutschen in Turin gewinnen konnten. In der Nähe des ehemaligen „Zabo“ in Nürnberg hat man eine Straße nach ihm benannt.
Ulrich Kaiser, Mai 2008
Literatur zu Heiner Stuhlfauth:
Joachim Seyppel: Wer kennt noch Heiner Stuhlfauth? München 1973
Ausführliche Biografie: www.glubberer.de