Tennis
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1985: Boris Becker gewinnt als erster Deutscher und jüngster Spieler der Geschichte das Finale von Wimbledon.
Im folgenden Jahr wiederholt Becker seinen eindrucksvollen Triumph und kürt sich zum zweiten Mal zum Wimbledon-Sieger.
Seine offensive Spielweise mit seinem legendären Becker-Hecht macht ihn zum Publikumsliebling und Tennis zur populärsten Zuschauersportart nach dem Fußball.
Auch bei olympischen Spielen feiert Boris Becker große Erfolge: 1992 gewinnt er im Doppel mit Michael Stich die Goldmedaille.
Becker beendet seine Karriere mit insgesamt sechs Siegen bei Grand Slam Turnieren. Außerdem holt er mit Deutschland zwei Mal den Davis Cup und gewinnt drei Mal die ATP Weltmeisterschaft (damals "Masters").
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage kennt jeder. Wäre ich nicht rechts abgebogen, sondern links; hätte ich nicht auf den Rat des Tutors, sondern auf den der Tante gehört; wäre ich früher aufgewacht oder schneller gewesen? Je voller ein Leben ist, desto mehr Fragen liegen auf dem Tablett, aber manchmal geht es um Momente, auf die man gar keinen Einfluss hatte. Was also wäre passiert, hätte der Amerikaner Tim Mayotte in einem Spiel der vierten Runde der All England Championships 1985 nicht an der Grundlinie gestanden, als ihm der verletzte Gegner zum Zeichen der Aufgabe am Netz die Hand reichen wollte?
Dieser Gegner hieß Boris Becker, war 17 Jahre alt und schien wild entschlossen zu sein, alles über den Haufen zu rennen. Keine zwei Wochen zuvor hatte er bei einem Rasenturnier im Londoner Queen’s Club den ersten Titel seiner Karriere bei den Profis gewonnen, und die Sieger von Queen’s zählen traditionell zu den aussichtsreichen Kandidaten in Wimbledon. Doch dann humpelte dieser große, rotblonde Junge nach einem Sturz mit schmerzendem Knöchel Richtung Netz – und Mayotte stand zu weit weg. Also setzte sich Becker auf seinen Stuhl, hörte die Stimme seines Managers Ion Tiriac, der draußen neben Trainer Günther Bosch saß und schrie: „Boris! Drei Minuten! Drei!“, und begriff – er verlangte vom Schiedsrichter eine Auszeit zur Behandlung. Als sich der angeforderte Physiotherapeut endlich durch die Masse der Zuschauer zum Außenplatz gekämpft hatte, sagte der Schiedsrichter: „Die Zeit ist um.“ Becker protestierte, forderte den Oberschiedsrichter zur Klärung der Angelegenheit an, und der gab grünes Licht. Der Fuß wurde verarztet, der Patient ging zurück ins Spiel, und 20 Minuten später hatte er das Ding gewonnen.
Ein paar Tage später, am 7. Juli, gewann der ungestüme Teenager aus dem Badischen mit einem Sieg gegen Kevin Curren den Titel beim berühmtesten Tennisturnier der Welt – als Jüngster, als erster deutscher und als erster ungesetzter Spieler. Wie die Sache weiter gegangen wäre, hätte Tim Mayotte nicht an der Grundlinie gestanden, sondern bereit zum Handschlag am Netz?
Es spricht vieles dafür, dass Becker diesen Titel und viele andere ohnehin irgendwann gewonnen hätte. Er hatte ja schon gut ein halbes Jahr zuvor bei den Australian Open in Melbourne im Viertelfinale gespielt (das Turnier fand damals im Dezember statt), und es gab reichlich Hinweise darauf, dass er es drauf hatte, die Welt des Tennis aufzumischen. Aber vielleicht hätte ihn die Lawine, die er mit dem Sieg lostrat, ein oder zwei Jahre später nicht so heftig durchgeschüttelt. Was der 7. Juli 1985 auslöste, sowohl in Beckers eigenem Leben als auch im deutschen Sport, das konnte keiner ahnen. Am Tag vor dem Finale hatte er sich noch von seiner Mutter Elvira ein paar Walzerschritte zeigen lassen, weil er dachte, beim Champion’s Dinner müsse er mit der Siegerin tanzen (den Tanz gab es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr), doch dann drehte sich auf einmal sein ganzes Leben im Kreis, und Deutschland spielte verrückt. Dieser 7. Juli war der Tag, an dem Beckers Kindheit und Jugend innerhalb weniger Stunden zu Ende gingen.
Alles, was danach passierte, hatte irgendwie mit dem Moment des Sieges zu tun, der in seiner Bedeutung in der deutschen Sportgeschichte auf einer Ebene mit Max Schmelings Titelgewinn als Boxweltmeister aller Klassen und mit dem Triumph der Fußball-Nationalmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 in Bern steht. Wegen der globalen Bedeutung, aber auch wegen des Knalleffekts.
Innerhalb weniger Jahre lernten Großmütter, was es mit zweitem Aufschlag oder Breakball auf sich hatte, weil Tennis auf einmal im Fernsehen übertragen wurde wie sonst nur Fußball oder die Wettbewerbe Olympischer Spiele. Und fast alles, was Becker sagte, tat oder vorhatte, landete in dicken Lettern in Zeitungen und Magazinen. Im Bekanntheitsgrad stand er mit dem Bundeskanzler oder Bundespräsidenten bald auf einer Stufe – wenn nicht sogar ein paar Zentimeter darüber. Und das war nicht nur in Deutschland so; diesen jungen Mann, der in kein Schema passte und der es fast immer schaffte, aus einem ganz normalen Spiel ein Drama zu machen, kannten und erkannten die Leute zwischen Finnland und Fidschi bald überall. „Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen“, hatte die Washington Post nach dem großen Sieg geschrieben. Er hatte danach lange Zeit keine Chance, sich aus der Umklammerung zu befreien. In seiner ersten Autobiografie („Augenblick, verweile doch“), die 2003 erschien, schrieb er über das Jahr danach: „Es war ein unmenschlicher Druck nach dem ersten Titel. Ich durfte nichts mehr. Adieu Freiheit. Nur noch das Spiel zählte.“
Doch zwölf Monate nach dem Urknall gewann er den Titel in Wimbledon zum zweiten Mal. Im Gegensatz zum ersten, an den sich die halbe Welt erinnern kann, ist vom zweiten weniger hängen geblieben. Dabei ist der, gerade wegen der Vorgeschichte und wegen der Kollektion von Verrücktheiten, vermutlich jener mit dem größten Wert unter den 49 Titeln seiner Karriere.
Becker gewann Grand-Slam-Titel in New York (1989) und in Melbourne (’91 und ’96), aber Wimbledon war für ihn Fixstern und Sehnsuchtsort. Drei Titel holte er im All England Club (’85, ’86 und ’89), weitere vier Mal spielte er im Finale (’88, ’90, ’91 und ’95). Barbara Feltus, Beckers erste Frau, sagte mal, für ihren Mann habe es immer nur drei Jahreszeiten gegeben – die Zeit vor Wimbledon, Wimbledon und die Zeit nach Wimbledon. Und so hätte es keinen besseren Ort für das letzte Spiel seiner schillernden, aufregenden Karriere geben können als den berühmten grünen Centre Court, auf dem er sich im Achtelfinale 1999 im Spiel gegen den Australier Pat Rafter verabschiedete.
Nach mehr als insgesamt 900 Spielen standen am Ende 713 Siege im Einzel zu Buche, darunter zwar keiner im Finale eines Sandplatz-Turniers, aber 38 im Davis Cup. Als er im Frühjahr ’85 zum ersten Mal für Deutschland im wichtigsten und traditionsreichsten Mannschaftswettbewerb des Tennis spielte, hatten die meisten der Zuschauer noch keine konkrete Vorstellung, was sie von diesem Teenager halten sollten, der mit einer kecken schwarzen Lederkappe erschienen war. Beim zweiten Auftritt, fünf Monate später und knapp einem Monat nach dem ersten Triumph in Wimbledon, erlebte Deutschland am Hamburger Rothenbaum zum ersten Mal Fußballatmosphäre auf den Rängen eines Tennisstadions. Die Leute brüllten, trampelten und schwenkten Fahnen, und mehr als ein Jahrzehnt lang war der Davis Cup in Deutschland ein ganz großes Ding. Becker trug maßgeblich zu den Triumphen der Jahre ’88 (in Göteborg gegen Schweden) und ’89 (in Stuttgart gegen Schweden) bei. Zu seinen Fans gehörte Teamchef Niki Pilic, der einmal sagte: „Wenn andere Spieler einen Willen haben, der zwei Tonnen schwer ist, wiegt der von Boris 22. Da gibt es Dinge, die man nicht sehen kann.“
Pilic, einst selbst einer der besten Spieler der Welt, war jedenfalls maßgeblich daran beteiligt, dass Becker mit Partner Michael Stich bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona die Goldmedaille im Doppel gewann. Stich hatte Becker 1991 zur allgemeinen Überraschung den vierten Wimbledontitel weggeschnappt, und die gemeinsame Kommunikation während der Spiele in Spanien tendierte stark gen Null. Jahre später versicherten beide, natürlich hätten sie im Streben danach, besser als der andere zu sein, auch voneinander profitiert.
Der Tennisspieler Becker verabschiedete sich 1999 von seinem Publikum, und er tat sich nicht leicht mit dem Übergang. Es sei ihm bewusst, sagte er, dass er in keinem Job der Welt jemals so gut sein würde wie in diesem. Die ersten Jahre im neuen Jahrtausend waren geprägt von Turbulenzen, geschäftlich wie privat. Seine Ehe wurde geschieden, und im Oktober 2002 verurteilte ihn das Landgericht München I wegen Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. In seiner ersten Biografie schrieb er über diese Zeit: „Plötzlich wurden Ruhm und Reichtum zur Priorität meines Lebens, ich war fremdbestimmt und auf dem besten Weg, mich zu verlieren. Ich habe einen exzessiven Drang, an Grenzen zu gehen. Leben heißt für mich, Schmerzen zu ertragen und Freude zu spüren. Nur dann fühle ich mich wahrhaftig.“
In Deutschland fühlte er sich oft missverstanden, in England, wo er später in der Nähe des All England Clubs ein Haus kaufte, ging es ihm gut. Er blieb Wimbledon treu, kommentierte jahrelang für die BBC während des Turniers und arbeitete auch für andere Fernsehsender, auch in Deutschland. Im Juni 2009 heiratete er die Niederländerin Sharlely (Lilly) Kerssenberg, im Februar 2010 kam der gemeinsame Sohn Amadeus zur Welt, Beckers viertes Kind nach den Söhnen Noah und Elias aus der ersten Ehe und der unehelichen Tochter Anna in London. Er ist Vorsitzender der Laureus Sports for Good Foundation, außerdem ist er Gründungsmitglied der Laureus World Sports Awards, der Auszeichnungen für die besten Sportler der Welt.
Doch mit lautem Knall kehrte er aus der Kommentatorenkabine ins Spiel zurück. Im Dezember 2013, kurz vor Weihnachten, verkündete der Serbe Novak Djokovic, Becker sei ab sofort Chefcoach in seinem Team. Die Nachricht schlug mit ähnlicher Geschwindigkeit ein wie die massiven Aufschläge des neuen Chefs anno dazumal; damit hatte niemand gerechnet. Mit Becker im Team übernahm Djokovic nach seinem zweiten Wimbledonsieg im Sommer 2014 wieder die Spitze der Weltrangliste, gewann im Januar 2015 den fünften Titel bei den Australian Open und ein halbes Jahr danach den dritten in Wimbledon. Stolz und gerührt sah er Djokovic siegen, und er stand dabei auf der Tribüne keine drei Meter von jener Stelle entfernt, an der Karl-Heinz Becker einst Fotos vom Sieger geschossen hatte, seinem 17 Jahre alten Sohn.
Doris Henkel, September 2015
Literatur zu Boris Becker:
Boris Becker: Augenblick, verweile doch. Autobiografie. Gütersloh 2003
Robert Lübenoff: Advantage Becker. Berlin 1997
Herbert Riehl-Heyse (Hrsg.), Boris Becker: Boris B. 18 Autoren, 1 Phänomen. Stuttgart 1992.
Boris Becker: Das Leben ist kein Spiel. München 2013