Tennis
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1991 betritt Michael Stich die größte Tennisbühne der Welt und bestreitet sein erstes Wimbledon-Finale gegen Boris Becker.
Stich behält im deutschen Duell die Oberhand und ist damit der vierte deutsche Tennisspieler der das Einzelturnier in Wimbledon gewinnt.
1992 ist Stich erneut in Wimbledon erfolgreich und gewinnt das Doppelturnier an der Seite des US-Amerikaners John McEnroe.
Im selben Jahr holt er gemeinsam mit Boris Becker die Goldmedaille beim Doppelturnier der Olympischen Spiele in Barcelona.
In Anerkennung seiner sportlichen und gesellschaftlichen Verdienste wird Stich 2015 in die "Hall of Fame des deutschen Sports" aufgenommen.
Von 2008 bis 2018 ist der einstige Wimbledonsieger Turnierdirektor des ATP-Turniers in Hamburg. Am 29. Juli 2018 findet das letzte Turnier mit ihm in dieser Rolle statt. Nur wenige Tage vorher wurde Stich als sechster deutscher Spieler in die Hall of Fame des Tennissports aufgenommen. (Foto: picture alliance)
Zuerst fallen einem die ganz großen Bilder ein. Michael Stich, wie er nach dem bedeutendsten Sieg seiner Karriere an einem sonnigen Sonntag in Wimbledon jubelnd auf die Knie sinkt, anno ’91; ein Jahr danach mit einer olympischen Goldmedaille um den Hals neben dem rotblonden Doppelpartner auf dem Podium bei den Olympischen Spielen in Barcelona; wiederum ein Jahr später, Stich im Zentrum des dritten Sieges der Deutschen im Davis Cup. Bilder, die zu lebendigen Erinnerungen führen und die zu den größten Momenten des deutschen Sports gehören.
Es sind die Eckdaten einer Karriere, die vergleichsweise spät begann, dann aber gewaltig Fahrt aufnahm. Als Deutschland Mitte der achtziger Jahre im Tennistaumel hysterisch nach Luft schnappte, war der junge Stich unaufgeregt unterwegs zum Abitur, spielte Fußball bei Raspo Elmshorn und Tennis beim LTC Elmshorn. Auf die Idee, mit dem Tennisspielen Geld zu verdienen, kam er lange Zeit nicht. Profisport, so berichtete er im Frühjahr 2015 in einem Interview mit der „Zeit“, habe im Hause Stich nicht viel gegolten; das sei, fand nicht nur der Vater, doch kein richtiger Beruf. Der dritte Sohn der Kaufmannsfamilie aus dem Norden machte wie geplant das Abitur, leistete danach seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr und hätte dann vermutlich studiert – wenn nicht ein kleiner Titel dazwischen gekommen wäre. Mit 18 wurde Stich Deutscher Jugendmeister und machte dabei so großen Eindruck, dass ihm einer der anwesenden Trainer riet, es doch als Profi zu versuchen. 1988 gewann er sein erstes, kleines Turnier, und knapp vor seinem 20. Geburtstag vollzog er den großen Schritt. Spät im Vergleich mit anderen, sehr spät; die Amerikaner Andre Agassi und Michael Chang waren mit 16 als Berufsspieler unterwegs, deren Landsmann Pete Sampras mit 17, ebenso Boris Becker, der bekanntlich immer noch 17 war, als er zum ersten Mal in Wimbledon gewann.
Ein Jahr nach der Entscheidung gehörte Stich zu den besten 100 der Tenniswelt, im März 1990 gewann er bei einem Turnier in Memphis/Tennessee den ersten von insgesamt 18 Titeln auf der Profitour, und im Frühjahr 1991 hob die Rakete ab. Fachleute schwärmten längst von seiner eleganten Rückhand, seinen druckvollen Volleys, dem effektiven Aufschlag; von der ganzen Vielfalt seines scheinbar mühelosen Spiels. Spätestens bei den French Open in Paris, als er erst im Halbfinale gegen den späteren Sieger Jim Courier aus den USA verlor, war es nicht mehr zu übersehen, was dieser andere Deutsche drauf hatte, und alle weiteren Fragen wurden ein paar Wochen später in Wimbledon geklärt.
Auf dem Weg zum großen Sieg gegen Boris Becker gewann er auf verblüffend selbstverständliche Art. Unvergesslich, wie er im Halbfinale Titelverteidiger Stefan Edberg besiegte (4:6, 7:6, 7:6, 7:6), obwohl der Schwede im ganzen Match kein einziges Aufschlagspiel verlor. Normalerweise wirkte Edberg in Sieg und Niederlage gleichermaßen gelassen, aber an diesem Tag sah es so aus, als könne er die Niederlage nicht verstehen. Und ebenso souverän spielte Stich dann im ersten und einzigen deutschen Männer-Finale in der Geschichte des Turniers. Boris Becker, der auf dem berühmtesten Centre Court der Welt zu diesem Zeitpunkt bereits drei Mal den Titel gewonnen und zwei Mal im Finale gespielt hatte, wirkte nervös – nicht Stich, der Debütant. Der große Außenseiter, wie die meisten Leute dachten. Aber die Zuschauer auf den Rängen und Millionen von Tennisfans vor den Fernsehschirmen der ganzen Welt staunten, wie bestimmt und konzentriert dieser Außenseiter das Geschehen bestimmte. Becker gab hinterher zu, schon ab Mitte des zweiten Satzes sei ihm klar gewesen, dass er nicht gewinnen würde, sollte der andere da drüben keine großen Fehler mehr machen. Und selbst der Stuhl-Schiedsrichter schien das Ganze am Ende nicht fassen zu können. John Bryson, Polizist aus Essex, rief nach dem letzten Punkt zum 6:4, 7:6, 6:4 ins Mikrofon: „Game, Set and Match – Becker.“
In vielen Versuchen, das Geschehen dieses bemerkenswertesten Tages der Geschichte des deutschen Männertennis zu deuten, hieß es damals, so etwas könne nur einer schaffen, der kühl bis ans Herz sei. „Blödsinn“, sagte Stich, als er davon hörte. „Auf dem Platz bin ich nicht der coole Typ, wie das immer dargestellt wird. Ich reg’ mich wahnsinnig gern auf, und ich reg’ mich auch sehr oft auf.“ Doch in die Schublade mit der Aufschrift „kühler Norddeutscher, Kopfmensch“, in die er oft gesteckt wurde, weil er klare Ansagen pflegte, ohne Rücksicht auf Verluste, passte er nicht. Ganz im Gegenteil. Um das zu erkennen musste man ihm nur zuhören, wenn er irgendwo nach einem Sieg die obligatorische, kleine Dankesrede hielt. So 1993, als er bei den German Open in Hamburg nach dem Finale mit tränenerstickter Stimme davon erzählte, wie er davon geträumt habe, dieses Turnier zu gewinnen, seit er als Knirps zum ersten Mal am Rothenbaum zugesehen hatte. Oder bei einer Begegnung im Davis Cup 1995 in Utrecht/Niederlande, als er sich nach dem Sieg seiner Mannschaft, zu der auch Becker gehörte, das Mikrofon geben ließ und sich bei den Zuschauern sichtlich bewegt mit den Worten bedankte: „Vielen Dank für Ihre Unterstützung und Fairness. Ich habe so etwas im Davis Cup noch nicht erlebt.“ So klang die Begleitmusik zu den anderen Bildern der Karriere; den leisen, feinen.
Ein paar Monate danach erlebte Stich in diesem wichtigsten Mannschaftswettbewerb des Tennis allerdings eine der härtesten Stunden seiner Karriere, als er neun Matchbälle zum Sieg gegen Andrej Tschesnokow und damit auch zum Sieg der deutschen Mannschaft im Herbst ’95 gegen die der Russen im Halbfinale in Moskau vergab. Untröstlich hockte er hinterher auf der Bank, umringt von seiner Mannschaft und Teamchef Niki Pilic, die gemeinsam versuchten, ihn wie in einer Wagenburg zu schützen.
Ein Wimbledontitel im Einzel, einer im Doppel (1992 mit John McEnroe), zwei weitere Grand-Slam-Finals (1994 bei den US Open, 1996 in Paris), ATP-Weltmeister 1993, Olympiasieger, Davis-Cup-Sieger – eine grandiose Sammlung. Und in der langen Liste seiner Erfolge stehen auch diverse Einträge, die beim Konkurrenten B. Becker fehlen. Stich gewann Titel auf allen vier Belägen (je vier auf Rasen und Hartplätzen, sieben auf Teppich und drei auf Sand), den ersten im März 1990 in Memphis, den letzten sechs Jahre später in Antwerpen, und er war bei allen deutschen Turnieren erfolgreich. Im Juni 1996 spielte er, obwohl er erst kurz zuvor eine Fußverletzung überstanden hatte, als erster Deutscher nach mehr als einem halben Jahrhundert im Finale der French Open in Paris.
Und fast wäre er beim letzten Auftritt der aktiven Karriere noch einmal im Wimbledonfinale gelandet. Er hatte schon vor den All England Championships 1997 angekündigt, dass dies sein Abschiedsturnier werden sollte; ständige Verletzungen hatten ihn mürbe gemacht, vor allem die Schulter schmerzte. Aber in den Tagen dieses letzten Turniers spielte und zauberte er, und viele Leute fragten sich: Warum will einer nicht mehr Tennis spielen, der immer noch zu den Besten gehört? Selten jedenfalls machte einer im Abschiedsspiel eine derart überragende Figur. Fünf Sätze im Halbfinale gegen den Franzosen Cedric Pioline, bis zum Rand gefüllt mit Finessen und Delikatessen. Stich verlor, aber er sagte hinterher, dieser Abschied sei ein Traum gewesen. „Auf dem Centre Court in Wimbledon, du spielst so gut, wie es besser nicht geht, dir steht einer gegenüber, der unglaublich ist, und du erlebst ein fantastisches Spiel in fünf Sätzen.“
So endete dieser Teil der Karriere nach insgesamt 385 Siegen, aber Michael Stich ging dem Tennis nicht verloren. 2009 übernahm er den Posten als Turnierdirektor der German Open in Hamburg, und er versteht diese Aufgabe als komplettes Paket. Er verhandelt mit der Akkuratesse und der Unnachgiebigkeit eines hanseatischen Kaufmannes, ganz im Sinne der Familientradition, er verpflichtet Stars wie Roger Federer oder Rafael Nadal, und wenn Not am Mann ist, springt er auch als Trainingspartner ein. Gelegentlich ist er auf der Anlage mit einem Kameramann unterwegs, um kleine Filme zu produzieren, die dann an den Turniertagen auf den Videowänden laufen, er weiß, welcher Papierkorb wo steht, und er sieht den Unterschied zwischen den Dingen, die besser funktionieren könnten und denen, die besser funktionieren sollten. Seit 2010 ist er auch Chef bei einem kleineren Turnier in Braunschweig.
Bereits während seiner aktiven Zeit als Tennisprofi gründete er 1994 die Michael Stich Stiftung, die sich um HIV-infizierte und an AIDS erkrankte Kinder kümmert. Für dieses Engagement wurde ihm 1997 der deutsche Stifterpreis verliehen und 2008 das Bundesverdienstkreuz – die renommierteste zahlreicher Auszeichnungen, darunter auch die als Hamburger des Jahres 2007. Gibt es ein Wort, mit dem man all das, was er tut, zusammenfassen kann? „Philanthrop“, sagte er im Interview mit der „Zeit“. „Sind das nicht die, die alles machen und nichts richtig können? Ich interessiere mich für sehr viele Dinge. Ich kann meine Stiftung, ich kann dieses Tennisturnier, aber ich kann auch gewisse Dinge gar nicht. Ich laufe keiner Sache hinterher. Es war und ist mir aber wichtig, mit 60 nicht ausschließlich als der Tennisspieler wahrgenommen zu werden, der vor 40 Jahren Wimbledon gewonnen hat. Ich denke auch, dass die Menschen inzwischen sehen, dass ich in den vergangenen 20 Jahren sehr viele andere Dinge gemacht habe, die nachhaltig sind. Wichtig ist mir aber vor allem, was ich empfinde und was ich fühle.“
Seit 2005 ist Stich in zweiter Ehe verheiratet, er lebt in Hamburg, ist eingetragenes Mitglied des HSV und sammelt mit großer Freude zeitgenössische Kunst. Wenn nicht alle Anzeichen täuschen, dann fühlt sich dieser Mann ziemlich wohl in seiner Haut.
Doris Henkel, September 2015
Literatur zu Michael Stich:
Wimbledon – Das offizielle Jahrbuch ’91. Köln 1991
Wimbledon – Das offizielle Jahrbuch ’97. Köln 1997
Patrizia Held, Uta Robbe-Oberhössel: Stadtgespräche aus Elmshorn (mit Michael-Stich-Porträt „Vom Spitzensportler zum Stifter“). Meßkirch 2014