Rudern
Rudern
Der 14. August 1936 war ein grauer Tag, es hatte stark geregnet und Berlin-Grünau stand unter Wasser. Dennoch saßen 20.000 Menschen vor den Finalläufen der olympischen Ruderwettbewerbe in gespannter Erwartung auf den Tribünen am Langen See. Vor dem Start des Einer-Rennens goss es immerhin nicht mehr. Aber die Bedingungen, so schilderte es Gustav Schäfer später, waren immer noch „außerordentlich ungünstig“. Die sechs Skuller hatten mit Wellenschlag zu kämpfen und mit Gegenwind. Der gelernte Konditor, 29 Jahre alt, ignorierte das Wetter so gut es ging und setzte sich sofort an die Spitze des Feldes.
Nach 1.000 Metern, der Hälfte der Strecke, lag er bereits zwei Längen vor dem Österreicher Josef Hasenöhrl. Der große Favorit aus der Schweiz, Ernst Rutli, schien bereits abgeschlagen. „In den letzten 500 Metern lag ich zwar klar in Führung, aber sie war für mich sehr, sehr hart“, schilderte Schäfer nach dem Finale sein umjubeltes Finish. Mit ruhigem Schlag vergrößerte er dennoch seinen Vorsprung auf über vier Bootslängen. „Niemand kann sich ausdenken, wie mir zumute war“, berichtete Schäfer in den Dresdner Nachrichten. „Als ich dann das Ziel passiert hatte und den Beifall richtig hörte, da purzelten mir nur so die Tränen vor Freude, so war ich ergriffen.“
Schäfer wurde gefeiert wie ein Popstar nach diesem Triumph bei den Olympischen Spielen, kein Wunder, der erste deutsche Olympiasieger in dieser Bootsklasse war eine Sensation. Der Sachse, der am 22. September 1906 in Johanngeorgenstadt geboren worden war, erzählte noch nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Details über seinen größten Erfolg – wenn er auf Vortragsreisen für die Deutsche Olympische Gesellschaft (DOG), die er 1951 mitgründete, um Spenden warb, um die deutschen olympischen Sportler zu unterstützen. Er erinnerte sich auch noch 1986, als er dem Verbandsorgan Rudersport zum 50. Jubiläum seines Olympiasieges ein Interview gab, an alle Einzelheiten.
Aber über das, was er an diesem 14. August 1936 noch als „unvergesslich“ bezeichnet hatte, schwiegen er und auch die Fachpresse nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes: den Empfang in der Loge des Reichskanzlers. „Ich habe mein Bestes hergegeben für meinen Führer, für Deutschland und für Dresden“, waren seine ersten Worte, bevor er zu Adolf Hitler gerufen wurde. „Als er uns Sieger sah, war er ganz bewegt und brachte nur die Worte heraus: Ich danke Ihnen. Er sah uns allen in die Augen, und diese Anerkennung aus dem Munde und aus den Augen des Führers war mir das Schönste in meiner Siegesfreude, denn wir wussten, der Führer ist genauso übervollen Herzens wie wir es sind.“
Schäfer sprach nach 1945 auch nicht darüber, dass er als überzeugter Nationalsozialist in vielen Vorträgen das NS-Regime propagierte. Am 30. März 1938 rief er in seiner Funktion als Gaufachwart der sächsischen Ruderer in den Dresdner Nachrichten zur Wahl Hitlers und zur Abstimmung über den „Anschluss“ Österreichs auf: „Das Ziel, das sich einst Bismarck gestellt hatte, ein Großdeutschland zu schaffen, wurde durch den Führer in die Tat umgesetzt. (…) Liebe Ruderkameraden! Wir haben das große Glück, ein Stück deutscher Geschichte miterleben zu dürfen, um das uns spätere Generationen beneiden werden.“
Die meisten Olympiateilnehmer im Rudern 1936 waren überzeugte Nationalsozialisten, wie der Historiker Bernd Wedemeyer-Kolwe in einer Studie für den Deutschen Ruderverband (DRV) herausgearbeitet hat. Schäfer war bereits am 10. Juli 1933, wenige Monate nach der NS-Machtübernahme, in die SA eingetreten. Zur Belohnung wurde er nach dem Olympiasieg zum SA-Truppführer befördert. Gauleiter und Ministerpräsident Mutschmann erhob den Verwaltungssekretär im Sächsischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit außerdem in den Beamtenstand. Schäfer, der 1937 auch in die Partei eintrat (Nummer 5.821.098) und ab dem 1. Juli 1938 im Amt Speer in Berlin arbeitete, profitierte im „Dritten Reich“ erheblich von seiner politischen Überzeugung.
Seine berufliche Karriere war jedenfalls erstaunlich für jemand, der in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen war. Schäfer hatte sich zunächst dem Fußball gewidmet; er kickte in Dresden, wohin die Familie 1911 umgesiedelt war, zeitweise gemeinsam mit dem späteren Bundestrainer Helmut Schön. Zudem schwamm er im Dresdner Schwimmverein. Bei einem Gau-Schwimmfest hatte er sich in einem 1.500 Meter-Rennen den Spitznamen „Gummi“ erworben. Nachdem der lange führende Schwimmer ihn nicht hatte abschütteln können und Schäfer ihn auf der letzten Bahn noch überholte, kommentierte der anerkennend: „Der Hund ist zäh wie Gummi.“
Zum damals noch sehr elitären Rudern war Schäfer erst sehr spät gekommen, im Alter von 22 Jahren. Im März 1929, so berichtete er, seien die Schwimmer von den Ruderern des Dresdner RV zu einer Tanzveranstaltung eingeladen worden. An diesem Abend ließ er sich zu einem Proberudern auf der Elbe überreden, das den DRV-Trainer Wurtmann so stark beeindruckte, dass er Schäfer überzeugte, es in diesem Sport zu versuchen. Der Novize profitierte im Boot sehr von seiner guten Kraft-Ausdauer, die er sich als Schwimmer angeeignet hatte, und da er offensichtlich auch Talent für die komplizierte Motorik auf dem Wasser besaß, stellten sich die ersten Erfolge bald ein.
Zur Ausbildung saß Schäfer zunächst im Achter und im Vierer, bevor er sich 1931 endgültig auf den Einer festlegte. Sein sagenhafter Aufstieg in die Weltklasse, den Schäfer mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft und der Europameisterschaft 1934 in Luzern vorläufig krönte, ist nicht zu denken ohne den professionellen Rudertrainer George Dan Cordery. Der kosmopolitische Brite hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gearbeitet und brachte viel Erfahrung mit. In taktischen und technischen Belangen prägte er seinen Schützling so sehr, dass der Sachse ihn wie einen Messias verehrte. „Jedes Wort, was er mir an Instruktionen zuteil kommen ließ, war für mich ein Evangelium“, erinnerte sich Schäfer 1986 im Rudersport an den Mann aus Putney, der das deutsche Team vor Berlin 1936 in der „Ruder-Zelle Grünau“ perfekt präpariert hatte.
Cordery coachte Schäfer auch danach, als das Fachamt Rudern den Einer-Olympiasieger mit Willi Kaidel (Schweinfurt) in den Doppel-Zweier setzte, um das Duo für die Olympischen Spiele 1940 in Helsinki auf Gold zu trimmen. Doch Schäfer mochte 1939 nicht mehr und trat bei den Deutschen Meisterschaften nicht mehr im Skiff an. Dafür wurde er vom Chef des Fachamtes Rudern, Heinrich Pauli, öffentlich getadelt. Sein Trainer Cordery, den die Gestapo inzwischen im Visier hatte, und dessen Leipziger Ehefrau flüchteten kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges über die Niederlande nach England. Cordery hatte, anders als sein Schützling, bei Siegerehrungen den „Deutschen Gruß“ stets verweigert.
Nach dem Krieg kehrte Schäfer 1947 aus der Gefangenschaft zunächst nach Ost-Berlin zurück. Sein alter Weggefährte aus aktiven Zeiten, Georg von Opel, mit dem er 1936 bei den Deutschen Meisterschaften um das Olympiaticket gerungen hatte, half ihm aus der Not. Von Opel holte ihn ins hessische Flörsheim, verschaffte ihm eine Wohnung und beschäftigte ihn als Betriebsleiter auf seiner Bootswerft. Gemeinsam mit von Opel engagierte sich Schäfer dann für die Finanzierung des Spitzensports, indem sie in den 1950er Jahren mit der DOG viel Geld einwarben.
Zugleich arbeitete Schäfer als Trainer, zunächst in Flörsheim, dann in Wilhelmshaven und auch an seinem letzten Wohnort in München, wo er am 10. Dezember 1991 im Alter von 85 Jahren starb. Und er erzählte bis ins hohe Alter gern von seinen erfolgreichen Rennen und seiner Karriere. Aber diese Berichte waren eben nur die halbe Wahrheit. Über die dunklen Flecke in seiner Biografie, über den überzeugten Nationalsozialisten und glühenden Hitler-Verehrer, schwieg sich der erste deutsche Olympiasieger im Einer aus.
Erik Eggers, Dezember 2024
Quellen und Literatur zu Gustav Schäfer:
Bundesarchiv, BArch_R_9361-IX_KARTEI_36630510 (NSDAP-Mitgliederkartei)
Bundesarchiv, BArch_NS 23_9344 (SA-Mitgliederkartei)
Hessisches Staatsarchiv, HHSTAW_920-41_9566-1 (Volkszählung 1950)
Dresdner Nachrichten. Jg. 1936, 1938
Hakenkreuzbanner. Jg. 1938, 1939
Rudersport. Jg. 1986
Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aspekte zur Belastung des Deutschen Ruderverbands/Fachamt Rudern, Hannover 2024 (abrufbar unter: https:// archiv.rudern.de/drv)
Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik Teil 1. Athen 1896 – Berlin 1936. Berlin 1997