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Gewichtheben
Gewichtheben
Sein wohl emotionalster Wettkampfmoment: Bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 widmet Steiner die Goldmedaille seiner Frau, die ein Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Leben kam. (Foto: picture alliance)
Im gleichen Jahr wird Steiner nach seinem Olympiasieg zum "Sportler des Jahres" gewählt - eine von vielen weiteren Auszeichnungen. (Foto: picture alliance)
Drei Jahre nach dem tragischen Tod seiner Frau Susann heiratete der ehemalige Gewichtheber 2010 Moderatorin Inge Posmyk, die er zwei Jahre zuvor kennenlernte. (Foto: picture alliance)
2013 musste er seine sportliche Karriere aufgrund einer Verletzung, die er sich 2012 bei den Olympischen Spielen in London zuzog, beenden. Seitdem arbeitet er als Unternehmer und hält Vorträge im Bereich Bewegung und Ernährung - 2014 beispielsweise bei der Benefizgala des Kinderhilfswerk Plan International Deutschland in Hamburg. (Foto: picture alliance)
2015 erschien sein Buch "Das Steiner-Prinzip", welches er mit seiner Frau Inge zusammen geschrieben hatte. Nach seiner Autobiographie "Das Leben erfolgreich stemmen", die er 2009 veröffentlichte, war dies sein zweites Buch. (Foto: picture alliance)
Die Erinnerung ist nicht verblasst. Matthias Steiner kann sich viele Jahre nach seinem Triumph minutiös erinnern. Wie er sich auf dem Laptop in seinem Zimmers noch einmal „So soll es bleiben“ von Ich & Ich anhörte. Wie er den Laptop zuklappte, seine Tasche schnappte und sich auf den Weg machte. Mit dem Bus fuhr er zur Halle, in der es so voll war. Wie er erst nicht so richtig reinkam in den Wettkampf, es dann aber immer besser lief, so gut sogar, dass er am Ende 258 Kilogramm im Stoßen schaffte und Olympiasieger wurde. Steiner erinnert sich auch daran, dass anschließend nicht viel Zeit zum Feiern blieb. Er gab Interviews, eine Pressekonferenz im Deutschen Haus. Am nächsten Morgen fand er dann endlich in den Schlaf. Aber auch danach hörten die vielen Fragen an ihn nicht auf.
Steiner war im Sommer 2008 mehr als ein Olympiasieger im Superschwergewicht der Gewichtheber, ihm flogen auch die Herzen derer zu, die mit Sport im Allgemeinen und mit Gewichtheben im Speziellen nicht viel anfangen konnten. Ein vermeintlich kleines Detail machte die anschließende Siegerehrung zum emotionalsten Moment bei den Olympischen Spielen in Peking.
Steiner hielt ein Bild seiner Frau Susann in der Hand. Sein Mitstreiter auf dem Podium erkundigte sich bei ihm, was es mit dem Bild auf sich habe. Und genau das fragten sich Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Bildschirmen. Die Geschichte um das Bild war herzzerreißend: Etwas mehr als ein Jahr vor den Wettkämpfen in Peking war Susann ums Leben gekommen. In ihrem Kleinwagen wurde die 22-Jährige in der Nähe von Heidelberg von einem Jeep frontal gerammt. Wenige Stunden später verstarb sie.
Es heißt immer, der Sport sei eine Nebensache. Und das stimmt ja auch. Deswegen ließ der Gewichtheber Matthias Steiner die Hanteln erst einmal liegen nach dem Tod seiner Frau. Aber was kommt, wenn das Schicksal, ein verwirrter Autofahrer oder was auch immer, einem den Boden unter den Füßen weggezogen hat? Der Sport mag eine Nebensache sein, aber er ist auch eine Parabel auf das Leben. Die Antwort von Matthias Steiner lautete: Du stehst auf, nimmst die Hantel wieder in die Hände, und trainierst noch härter als zuvor.
Dieses Sportlermotto hatte Steiner schon vor dem Tod seiner Frau verinnerlicht. Er war ein Kämpfer, Rückschläge waren steter Teil seiner sportlichen Karriere. Es hört sich immer abgedroschen und pathetisch an, aber im Falle von Steiner könnte der Satz, dass Niederlagen nur stärker machen, zutreffender kaum sein.
Steiner erkrankte mit 17 Jahren in Folge einer verschleppten Grippe an der Autoimmunerkrankung Diabetes Typ 1. Ärzte rieten ihm vom Leistungssport ab, da diese Krankheit wegen des hohen Therapieaufwandes bereits ohne sportliche Höchstleistung eine große Herausforderung darstellt. Aber Steiner hat einen Dickschädel. Der Sport, diese Schinderei machte ihm Spaß. „Diese schwere körperliche Arbeit, das hat schon was Reinigendes“, sagt er noch heute. Gegen den ärztlichen Rat machte er weiter.
Noch 2005, gerade einmal drei Jahre vor den Spielen in Fernost, scheiterte er bei den Europameisterschaften in Sofia kläglich. Damals ging der in Wien geborene Steiner noch für Österreich an den Start. Bei der Spitze des österreichischen Gewichtheberverbandes (ÖGV) wurde er offenbar nicht besonders geschätzt. „Nach dem neuerlichen Beweis für seine Unsportlichkeit ist es mir egal, ob Steiner künftig für Schweden, Deutschland, Kasachstan oder Teppichland startet", sagte ÖGV-Vizepräsident Martin Schödl.
Dem österreichischen Verbandsfunktionär wurden diese Worte bald darauf um die Ohren gehauen. Steiner gab nicht auf, trainierte, inzwischen in Chemnitz, wie ein Besessener. Die Schufterei machte sich bezahlt. Im April 2008 wurde der inzwischen für Deutschland antretende Steiner überraschend Europameister.
Vier Monate später bestritt er diesen unvergesslichen Wettkampf bei Olympia. „Das war der Meilenstein meiner Karriere“, sagt Steiner. Dabei war es nicht nur ein sportlicher Triumph. Er half ihm auch bei der Trauerarbeit. „Das viele Training, der Olympiasieg und alles, was danach auf mich einprasselte, war natürlich auch eine Ablenkung für mich“, sagt er. Zudem habe ihm der offene Umgang mit dem Schicksalsschlag geholfen. „Das viele Reden darüber war wie eine Psychotherapie.“
Doch Steiner will nicht leugnen, dass es den Zeitpunkt gegeben habe, wo es zu viel wurde mit den immergleichen Fragen nach seiner verunglückten Frau und – ja – seinen immergleichen Antworten. „Da habe ich schon gemerkt, dass da etwas abkühlt.“ Zumal er immer noch in erster Linie Sportler gewesen ist, und nicht bloß ein trauriger Mann, dessen Frau verunglückt war.
Steiner erhielt nach dem Olympiasieg eine Auszeichnung nach der anderen, die Menschen und die Medien liebten ihn. Der ganze Ruhm machte ihn aber nicht träge. Er nahm weiter die Hantel in die Hand, trainierte, leistete körperliche Schwerstarbeit, hörte einfach nicht auf mit dem, was er am liebsten tat: hunderte Kilos nach oben zu stemmen. 2010 ärgerte sich der österreichische Gewichtheberverband jedenfalls schon wieder: Steiner wurde Weltmeister im Stoßen sowie Vizeweltmeister im Zweikampf.
Nach einer weiteren Silbermedaille bei der Europameisterschaft 2012 sollten die Olympischen Spiele im selben Jahr in London sein letzter großer Auftritt werden. Auch dieses Mal ging es bei ihm nicht ohne den großen Moment – einen Schreckmoment allerdings. Beim Versuch, eine 196 Kilogramm schwere Hantel zu stemmen, stürzte Steiner. Das Gewicht krachte auf seinen Nacken. Er zog sich schwere Prellungen zu und musste aufgeben.
Ein Jahr später erklärte der damals 30-Jährige seinen Rücktritt vom Profisport. Die Familie stehe nun im Vordergrund, begründete er den Schritt. Matthias Steiner ist inzwischen mit der TV-Moderatorin Inge Steiner (ehemals Posmyk) verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er bereue keinen Tag, sagt er. „Der Leistungssport war wunderschön. Aber ich bin danach nicht in ein Loch gefallen.“
Im metaphorischen Sinn hat Steiner die Hantel nie fallengelassen. Umtriebig war er in den Medien, hatte Auftritte bei durchaus fordernden Shows wie „Let’s dance“ oder „Schlag den Star“. Er schrieb zusammen mit seiner Frau Inge den Bestseller „Das Steiner Prinzip“, ein Ratgeber für alle Interessierten, die in relativ kurzer Zeit abnehmen wollen. Matthias Steiner legt Wert darauf, dass seine Frau und er das nicht leicht hingeschrieben haben. „Das war richtig viel Arbeit.“
Steiner wusste, wovon er schrieb. Als Leistungssportler brachte er viele Kilos auf die Waage, obwohl er jede Menge Kalorien Tag für Tag verbrauchte. Aber Steiner hat sich diszipliniert. Er hat sich körperlich verändert, ist viel Gewicht losgeworden – auch, um die vielen Anstrengungen des Alltags bewältigen zu können. „Ich habe mehr zu tun denn je“, sagt Steiner.
Neben seinen TV-Auftritten schreibt er Bücher, vor allen Dingen aber ist er Unternehmer. Mit seiner Frau hat er 2020 ein Food-Startup gegründet, das Low-Carb-Produkte entwickelt und vertreibt. Die Geschäfte laufen gut, die Firma wird größer. Dabei ist Steiner kein gelernter Betriebswirt. Gemeinsam mit seiner Frau muss er hart arbeiten. „Von meinem Namen kann ich mir nichts kaufen, wenn verhandelt wird“, sagt er.
Mag sein, dass die Geschäftswelt auf die harten Zahlen schaut. In der Welt des Sports ist der Name Matthias Steiner unvergessen. Auch viele Jahre nach dem Triumph von Peking liegen noch viele Autogrammkarten auf seinem Schreibtisch, die er nicht ausfüllen lässt, sondern trotz seiner vielen Unternehmungen selbst unterschreibt. „Ich bin kein Fußballstar, das schaffe ich schon noch“, sagt er. Steiner ist trotz seiner Prominenz nicht abgehoben, sondern normal geblieben. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern wieder in Österreich, auch der Großeltern zuliebe. „Die freuen sich über die Enkelkinder natürlich, und uns hilft das auch“, sagt er.
Nun könnte man meinen, dass es Steiner wegen der Vielzahl der ihm verliehenen Ehrungen auf eine weitere mehr nicht ankommt. Aber das täuscht. Die Aufnahme in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ sei schon etwas Besonderes. „Das ist ein Ritterschlag, wenn man sieht, wer sich sonst noch alles darin befindet.“ Die sportliche Ehre mache ihn glücklich, mit dem Sport angefangen zu haben. Vor allem aber: am Sport drangeblieben zu sein, sagt er.
Matthias Steiner ist das große Stehaufmännchen des deutschen Sports. Er steht für die reinigende Kraft des Sports, körperlich wie seelisch. Er ist deshalb ein Vorbild für viele und ganz gewiss ist er ein würdiges Mitglied der „Hall of Fame des deutschen Sports“.
Martin Einsiedler, Mai 2022