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Fußball
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Beim FC Bayern München war Philipp Lahm über ein Jahrzehnt hinweg Stammspieler und Identifikationsfigur, ab 2011 als Kapitän. (Foto: picture alliance)
Er gewann insgesamt 21 Titel, darunter das historische Triple 2013 aus Deutscher Meisterschaft, DFB-Pokal und UEFA-Champions-League. (Foto: picture alliance)
Als Kapitän führte er die Nationalmannschaft 2014 in Brasilien zum Weltmeistertitel. (Foto: picture alliance)
Überreichung der Gründungsurkunde am Sitz der Regierung von Oberbayern: Bereits 2007 gründete Philipp Lahm die nach ihm benannte Stiftung. (Foto: picture alliance)
Diego, ein Kollege, mit dem ich ab und an am Telefon über Fußball philosophiere, sagte mir mal: „Einen Spieler wie Philipp Lahm hatten wir nie.“ Ich staunte, denn Diego ist aus Spanien, schreibt für eine renommierte Zeitung aus Madrid. Für sein Heimatland haben Xavi, Andrés Iniesta, Sergio Ramos und Xabi Alonso gespielt, allesamt Meister ihres Fachs. Was hat Diego gemeint, als er Philipp Lahm über sie stellte?
Drei Dinge hatte er im Sinn. Das erste fand direkt auf dem Platz statt. Alle großen Fußballer bringen etwas Neues mit. Franz Beckenbauer war der Erste, der direkt passte und den Außenrist benutzte. Lahm zeigte gleich bei seinem ersten Länderspiel im Februar 2004 in Split etwas Niegesehenes: enge Ballführung, schnelle Richtungswechsel, zugleich Geschick und Robustheit im Zweikampf. Bei ihm wusste man nie, ob er defensiv oder offensiv besser war. Mir ist kein zweiter Fußballer im Kopf, über den sich das gleiche sagen ließe.
Beim VfB Stuttgart, wohin er sich in jungen Jahren verliehen ließ und wo er Nationalspieler wurde, umkurvte er in der Champions League die Stars. Die jungen Wilden behaupteten sich gegen Manchester United und den FC Chelsea. Es war der Außenverteidiger Lahm, der in den entscheidenden Phasen stürmte und alles wagte.
Das Eröffnungsspiel der WM 2006 gegen Costa Rica machte ihn berühmt. Als Linksverteidiger schoss er mit rechts das erste Tor des Turniers. Sein Traumtor wurde zum Grundstein für das Sommermärchen. Auf diesen Schuss vom Strafraumeck in den Winkel wird er noch heute in allen Teilen der Welt angesprochen.
Er war der Verteidiger, an dem kaum einer vorbeikam, und dank seiner Technik, Übersicht und Spielintelligenz auch ein Spielmacher. Fünf Mal hintereinander wurde Lahm ins Allstarteam der großen Turniere gewählt, von 2006 bis 2014. Diese Konstanz ist einmalig in der Fußballhistorie, kein anderer hat das geschafft.
Diegos zweiter Punkt betrifft den Umgang mit Niederlagen. Scheitert man daran oder wächst man an ihnen? Lahm hat einige erlebt, mit Deutschland je zwei Mal in wichtigen Duellen mit Italien und Spanien. Mit dem FC Bayern verlor er 0:4 in Barcelona. Damals, 2009, war das die beste Mannschaft der Welt, mit Lionel Messi und Pep Guardiola als Trainer, Bayern wirkte beinahe zweitklassig.
Bald erhielt Lahm ein Angebot aus Barcelona. Doch er lehnte ab. Er wollte stattdessen mit seinem Heimatverein FC Bayern Großes erreichen. Es schien illusorisch.
Vier Jahre später schlugen die Bayern im Halbfinale den FC Barcelona 4:0 und 3:0, sie gewannen die Champions League. Bayern hatte Barça überholt. Weil unter der Führung des Kapitäns Lahm eine große Mannschaft wuchs, deren Kern aus Spielern aus Bayern bestand, wie zuvor nur in den Siebzigern. Sein Wirken war nachhaltig. Wer weiß, ob der FC Bayern heute der internationale Topclub wäre, wenn es die Hochphase von 2010 bis 2017 nicht gegeben hätte?
Verantwortung zu übernehmen, heißt auch, im richtigen Moment aufzuhören. 2014 ging Lahm in der Nationalmannschaft, 2017 beim FC Bayern, obwohl sein Vertrag noch ein Jahr lief. Und obwohl er in beiden Teams noch Jahre hätte spielen können. Bis zum Abpfiff war er auf der Höhe. In seiner letzten Saison, in der er zum achten Mal Deutscher Meister wurde, war er der Spieler mit dem besten Sprintwert der Bundesliga.
Lahm konnte auch harte Entscheidungen treffen, wenn notwendig. Die Kapitänsbinde Deutschland gab er 2010 nicht mehr her. Michael Ballack passte das nicht, aber Lahm wusste die Mannschaft hinter sich. Gemeinsam wurden sie in Rio am 13. Juli 2014 Weltmeister. Selbstverständlich erschien Lahm zu Ballacks Abschiedsspiel in Leipzig. Konflikten ging er nicht aus dem Weg, so legte er sich in einem Interview mit der Führung des FC Bayern an, um seinen Trainer Louis van Gaal zu unterstützen. Auch dies gereichte nicht zum Nachteil des Vereins.
Beim dritten Punkt wird es politisch. Vor der EM in Polen und der Ukraine 2012 kritisierte Lahm in einem Interview den Umgang der ukrainischen Regierung mit der Oppositionellen Julia Timoschenko. Daraufhin maßregelte ihn der Uefa-Präsident Michel Platini öffentlich. Fußballer, die sich über Menschenrechte Gedanken machen und die Geschäfte stören, waren wohl nicht gefragt.
Als erster deutscher Nationalspieler sprach Lahm mit einem Schwulenmagazin. Man schrieb das Jahr 2007, er war erst 24, es war nicht ohne Risiko für seine Karriere, auf diesem Cover abgelichtet zu werden.
Im selben Jahr gründete er eine Stiftung, die sich seitdem für Kinder engagiert. Anlass war eine Reise nach Südafrika. Er wollte das Land besuchen, wo die nächste Weltmeisterschaft stattfinden würde. Er wollte erfahren, in welchem Umfeld er seinen Beruf ausüben wird. In Südafrika, so erlebte er es, liegen reich und arm sehr weit auseinander.
Auch seine bislang letzte Station übte er mit Sinn für das große Ganze aus. Als Turnierdirektor der Europameisterschaft 2024 setzte er sich damit auseinander, welchen Zweck sportliche Großereignisse in Zeiten erfüllen müssen, in denen die Demokratie unter Druck steht. In einer Kolumne stellt er sich den gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart. Sie erscheint in Zeitungen aus ganz Europa, etwa im Guardian, El País, Gazeta Wyborcza, Aftonbladet und der Zeit. Als gleichgestellte Mitstreiterin bei der Euro wählte er Celia Šašić.
Im Zuge dieser Aufgabe hat er eine Initiative für den Amateurfußball gegründet. Ziel von „Treffpunkt Verein“ ist es, das Ehrenamt und die Zivilgesellschaft zu stärken. Die Basis ist wichtig für die Spitze, der Breitensport bedeutend für den Zusammenhalt, Fußball ist der Sport des Volks. Dort, mittendrin, fühlt sich Lahm am wohlsten. Er sagt, dass seine Eltern ihm dies mitgegeben haben. Inzwischen ist er Co-Trainer der C-Jugend in seinem Heimatverein FT Gern, wo sein Sohn spielt.
Inzwischen ist er ein Vielgeehrter. Er ist Ehrenspielführer Deutschlands, Ehrenbürger Münchens, das Bundesverdienstkreuz hat man ihm verliehen. In die Hall of Fame des deutschen Fußballs wurde er bei erster Gelegenheit aufgenommen. Jetzt auch in die Hall of Fame des deutschen Sports. Als einer der wenigen Fußballer, die noch leben.
Lahm war ein exzellenter Kicker, ein fairer Abwehrspieler, als Teamplayer ein vorbildlicher Kapitän, erfolgreich sowieso. Auf dem Rasen verkörperte er Werte und wird das auch in all seinen kommenden Aufgaben tun, da bin ich sicher. Er ist ein Fußballer aus der Mitte der Gesellschaft. Diego wird mir zustimmen, die Deutsche Sporthilfe hat eine gute Wahl getroffen.
Oliver Fritsch (DIE ZEIT), im September 2025
Literatur von und zu Philipp Lahm:
Philipp Lahm: Der feine Unterschied – Wie man heute Spitzenfußballer wird. Kunstmann, 2011.
Philipp Lahm: Das Spiel – Die Welt des Fußballs. Penguin, 2021.
Philipp Lahm: Gesund kann jede*r! Mein Weg für einen aktiven Lebensstil. Herder, 2022.
Celine Mark: Philipp Lahm – Reise eines deutschen Kapitäns. Amazon Publishing, 2024.